Peter Grimm / 19.03.2020 / 09:54 / Foto: Sanofi / 206 / Seite ausdrucken

Abgesang auf die Bundesrepublik?

Schon den ganzen gestrigen Tag über wurde die Ansprache der Bundeskanzlerin in den Medien groß angekündigt. Offenbar war dem Kanzleramt klar, welche Befürchtungen allein diese Ankündigung auslöste. Deshalb wurde ausdrücklich zur Beruhigung betont, dass die Kanzlerin nicht die Verhängung einer bundesweiten Ausgangssperre verkünden werde. Was sollten die Bürger nun erwarten? Eine Blut-Schweiß-und-Tränen-Rede? Ein neues „Wir schaffen das“? Manch ein Textbaustein klang wie ein gespenstischer Abgesang auf die alte Bundesrepublik.

Oder sehe ich das zu überspannt, wenn ich kritisiere, dass die Bundeskanzlerin dieses Landes den Umstand, dass innerhalb weniger Tage im Notstandsmodus umstandslos wichtige Grundrechte außer Kraft gesetzt wurden, nicht mit überzeugenden Fakten begründet, sondern die Bürger mit ein paar pathetischen Textbausteinen abzuspeisen geruhte? In jedem Fall scheint sich meine Wahrnehmung deutlich beispielsweise von der des Tagesspiegel-Herausgebers Stephan-Andreas Casdorff zu unterscheiden. Der feierte die Kanzlerin-Ansprache unter der Überschrift „Merkel findet die richtigen Worte“ u.a. so: 

„Ihr Appell ist fürsorglich und klar in einem. Nur wenn wir alle verstehen, was zu tun oder, wichtiger, zu unterlassen ist, wird es einerseits besser werden – und staatlicherseits nicht härter.“ 

Keine Frage, wenn ein Notstand herrscht, dann muss ein Staat auch zu einschneidenden Maßnahmen greifen. Aber ist denn eigentlich der Notstand entsprechend der dafür vorgesehenen Notstandsgesetze offiziell ausgerufen worden? Oder hatten sich nicht Bundeskanzlerin und Landes-Ministerpräsidenten darauf geeinigt, quasi ordnungsrechtlich die Versammlungsfreiheit und die freie Religionsausübung auszusetzen, um Ansteckungsgefahren zu vermeiden? Solche Fragen hätte die Regierungschefin dieses Landes vielleicht beantworten können, doch das tat sie nicht. Ihr reichte es, ihren Bürgern zu erklären, dass sie sich wie im allergrößten Notstand zu fühlen und zu benehmen hätten:

„Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst. Seit der Deutschen Einheit, nein, seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keine Herausforderung an unser Land mehr, bei der es so sehr auf unser gemeinsames solidarisches Handeln ankommt.“

Nun will ich nicht die Gefährlichkeit des Corona-Virus klein reden, aber gehen hier nicht die Maßstäbe völlig verloren? Seit dem Zweiten Weltkrieg, also in all den Jahrzehnten des Kalten Krieges gab es keine so große Herausforderung mehr? Gut ich will nicht kleinlich sein beim großen staatsfraulichen Satz, denn vielleicht bezog sie den ja nur auf tödliche Krankheiten.

Aus dem öffentlichen Gedächtnis verschwunden

Aber ist es zu kleinlich, daran zu erinnern, dass 1957/58 die Asiatische Grippe grassierte, die nach der Spanischen Grippe als die zweitschlimmste Influenza-Pandemie des 20. Jahrhunderts gilt und an der weltweit mehr als eine Million Menschen starben? In der Bundesrepublik sind 30.000 Menschen an der Asiatischen Grippe gestorben. So lässt es sich ganz leicht auf Wikipedia nachlesen. Ebenso über die Hongkong-Grippe, die 1968 ausbrach und bis 1970 etwa eine Million Menschen dahinraffte. Nur für die Bundesrepublik, also damals natürlich ohne die DDR, werden 40.000 Tote geschätzt. Das ist aus dem öffentlichen Gedächtnis weitgehend verschwunden, wohl sicher auch, weil sich insbesondere im Jahr 1968 die Politik und die Medien mehr mit anderen Herausforderungen beschäftigten.

Doch Maßnahmen, die in der Tat in der Bundesrepublik bis dato undenkbar waren, brauchen als Legitimation natürlich ein Superlativ, wenn man nicht auf die Kraft von Fakten und Zahlen vertrauen mag.

Die Kanzlerin erklärt es nun zur „Richtschnur all unseren Handelns: die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen, sie über die Monate zu strecken und so Zeit zu gewinnen. Zeit, damit die Forschung ein Medikament und einen Impfstoff entwickeln kann. Aber vor allem auch Zeit, damit diejenigen, die erkranken, bestmöglich versorgt werden können.“

Heißt das nun, solange kein Medikament entwickelt worden ist, bleibt das Land lahmgelegt?

Dass sich die „Richtschnur unseres Handelns“ im Textbausteinkasten der Kanzlerin findet, erinnert sicher nur manchen früheren DDR-Insassen an die Transparente, auf denen die Beschlüsse des jeweils letzten SED-Parteitags zur „Richtschnur unseres Handelns“ erklärt worden waren. "Für das intensive Studium des Marxismus-Leninismus, der Richtschnur unseres Handelns", hieß es beispielsweise bei der FDJ, wie sich auch auf den Seiten der Bundeszentrale für politische Bildung nachlesen lässt.

„Unverzichtbar“ ist offenbar das neue „alternativlos“

Aber zurück zur Coronavirus-Krise: Dass die Kanzlerin Zeit gewinnen will, um alle Kranken gut zu behandeln, weil die deutschen Krankenhäuser mit zu stark steigenden Zahlen schwerer Covid-19-Erkrankungen überlastet wären, ist nun wirklich ein sachliches und nachvollziehbares Argument. Dass sie an dieser Stelle nicht selbstkritisch darauf eingeht, dass in den letzten Jahren einst vorhandene Klinik-Kapazitäten aus Kostengründen abgebaut wurden und eine weitere Krankenhaus-Schließungsrunde diskutiert wurde, sollte man ihr in einer solchen Ausnahmesituation selbstverständlich nachsehen. Aber an dieser Stelle mutet es dann etwas dick aufgetragen an, wenn sie dann sagt: „Deutschland hat ein exzellentes Gesundheitssystem, vielleicht eines der besten der Welt“. Dafür bedankt sie sich ja bei Ärzten und Pflegepersonal mit markigen Worten: „Sie stehen für uns in diesem Kampf in der vordersten Linie.“ Von „Front“ hat sie immerhin nicht gesprochen.

Und was sagt sie zur Beschneidung der Grundrechte auf dem Verordnungsweg?

„Es sind Einschränkungen, wie es sie in der Bundesrepublik noch nie gab. Lassen Sie mich versichern: Für jemanden wie mich, für die Reise- und Bewegungsfreiheit ein schwer erkämpftes Recht waren, sind solche Einschränkungen nur in der absoluten Notwendigkeit zu rechtfertigen. Sie sollten in einer Demokratie nie leichtfertig und nur temporär beschlossen werden – aber sie sind im Moment unverzichtbar, um Leben zu retten.“ 

„Unverzichtbar“ ist offenbar das neue „alternativlos“. Aber bitte, jetzt ist die Zeit für Mitgefühl, denn wir haben erfahren, wie schwer es der Kanzlerin gefallen ist, unsere Grundrechte zu beschneiden, ohne beispielsweise auch nur ansatzweise zu erklären, warum die deutsche Regierung nicht den britischen oder niederländischen Weg zur Bewältigung der Coronavirus-Krise erwogen hat. Stattdessen gibt’s Ermahnungen:

„Ich appelliere an Sie: Halten Sie sich an die Regeln, die nun für die nächste Zeit gelten. Wir werden als Regierung stets neu prüfen, was sich wieder korrigieren lässt, aber auch: was womöglich noch nötig ist. Dies ist eine dynamische Situation, und wir werden in ihr lernfähig bleiben, um jederzeit umdenken und mit anderen Instrumenten reagieren zu können. Auch das werden wir dann erklären. Deswegen bitte ich Sie: Glauben Sie keinen Gerüchten, sondern nur den offiziellen Mitteilungen, die wir immer auch in viele Sprachen übersetzen lassen.“

Schön, dass die deutsche Regierung jetzt in vielen Sprachen spricht. Nett, dass uns die Kanzlerin im Nachhinein alles erklären will, statt vorher zu präzisieren, welche „anderen Instrumente“ denn im Merkelschen Instrumentenkasten noch einsatzbereit sind. Und dass man nur offiziellen Mitteilungen glauben soll, ist wirklich eine bezeichnende Aussage, die man nicht mehr kommentieren muss. Wenn dann der folgende Textbaustein draufgesetzt wird, muss man sich doch fragen, ob das nur gedankenlos oder wirklich gewollt war:

„Wir sind eine Demokratie. Wir leben nicht von Zwang, sondern von geteiltem Wissen und Mitwirkung.“

Gerade übt die Obrigkeit in einem ungekannten Maße Zwang auf die Bürger aus, hat deren Möglichkeiten, an der politischen Willensbildung mitzuwirken dramatisch beschnitten und die Kanzlerin sagt so etwas? Es sollte doch wohl nicht wirklich wie ein zynischer Abgesang auf die freiheitlich-demokratische Ordnung der früheren Bundesrepublik klingen?

Foto: Sanofi

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Andreas Stueve / 19.03.2020

Nach alternativlos und unverzeihlich jetzt unverzichtbar. Das ist auf Neudeutsch ” nicht leistbar “, da eine Demokratie nicht unkaputtbar ist. Wie man am Beispiel der reichen und vielfältigen BRD sehen kann. Dazu sehe ich den Aufstieg nicht nur der Silben- sondern auch den der Freiheitsbarbaren. Die jede Chance nutzen werden, und uns bar jedes schlechten Gewissens um die Reste des Rechtsstaats bringen werden. Die Bargeldabschaffung z.B. ist schon am Laufen. Gestern im Edeka wurde der Kunde bar jeder Höflichkeit um Kartenzahlung “gebeten”, um die KassierInnen* vermittels Barem vor weiterer Durchseuchung zu bewahren. Der totalitäre Staat breitet sich aus. Und ich bin bar jeder Hoffnung, dass sich das auf demokratischem Wege verhindern lässt. Zumal das Parlament bar jeder Opposition grösseren Ausmaßes daherkommt.

Frank Danton / 19.03.2020

Der ganze Text basiert darauf der amtierenden, uckermärkischen Patrona eine Intelligenz zu unterstellen mit der sie Kausalitäten und Wahrheiten benennen hätte können um diese, im Sinne der Aufklärung, unter den gebildeten Teil der Bevölkerung zu bringen. Die Unterstellung von Intelligenz und einem guten Allgemeinwissen ist demnach als Pointe zu begreifen. Denn eines ist sicher, Merkel ist, unter anderen, die epochalste Dummheit auf zwei Beinen die es je gab.

Roland Müller / 19.03.2020

Den wochenlangen Schön- und Sonntagsrednern, wie z. B. dem Herrn Lauterbach, geht der Allerwerteste mit Grundeis und Merkel, Laschet und Co. simulieren Durchblick ohne wirklich etwas zu tun. Und so mancher Pressevertreter aus der Fangemeinde von der Mama Merkel will nicht wahr haben, das wir auf dem besten Weg sind, Italien in rasantem Tempo zu überholen und ergeht sich in ökoreligiösen und sozialistischen Spinnereien.  Deutschland wird das Land sein, das am längsten mit dem Coronavirus zu schaffen hat.

E. Thielsch / 19.03.2020

Hmmm… Das Parlament als Vertretung der Bürger kommt nicht vor? Nicht einmal in der Zukunft? Nicht einmal als nachträgliche Rechtfertigungs-Instanz? Brauchen wir überhaupt noch Wahlen und Parteien, wenn wir Mutti Merkel haben, die per Notverordnung schon alles richtig macht, freilich ohne Gesetz und gegen die Verfassung? Wer sich fragt, wie Weimar möglich war, bekommt gerade wieder einmal Unterricht.

Martin Lederer / 19.03.2020

Heute gab es doch die Meldung, dass irgendeine Polizeiaktion gegen Reichsbürger veranstaltet wurde. Ich dachte dabei zweierlei: 1.) Scheinbar sind die immer noch nicht ausgelastet genug, wenn die für so einen Sch… auch noch Ressourcen haben. 2.) Jetzt muss man wirklich aufpassen. Vielleicht sollte ich auch diesen Kommentar nicht schreiben. Eventuell benutzen sie die Notsitutation für “das große Aufräumen”: Alles und jedes, das sie immer schon gestört hat, können sie jetzt beseitigen.

Claudius Pappe / 19.03.2020

Pastorentochter die für ihre Reisefreiheit kämpfen musste ? Ich habe mir das nur 1 Minute angesehen. Dabei habe ich sämtliche Schimpfwörter, die ich je in meinem Leben hörte, dem starr blickendem Wesen im blauem Maoanzug neben der Europafahne entgegengefeuert. Gestern las ich : Geh zum Teufel, böse alte Frau.

Zdenek Wagner / 19.03.2020

Merkel die Magierin! Jawohl, MAGIERIN! Nein, ich habe keinen psychotischen Schub und habe heute Morgen auch brav mein Haloperidol eingenommen. Wieso dann Magierin? Nun, mir ist kein Politiker der letzten 2.000 Jahre bekannt, der sich dermaßen in Plattitüden ergeht, und keiner merkts! Irre, oder? “Abends wird’s dunkel”, “Atmen hilft beim Ersticken”, “Der Himmel ist oben, die Erde unter unseren Füßen” etc. etc. Nichts ist zu trivial, oder zu dümmlich, um nicht den Mund dieser Person zu verlassen! S A G E N H A F T!!! Sie wird mir fehlen, wenn sie mal geht … falls sie mal geht ...

Antonio Ponzio / 19.03.2020

Caro Peter Grimm Mir hat der Satz, man soll keine Kontakt mit ältere menschen haben,schockiert, des wegen sagen ich, Va a fan culo con tutto il cuore,  Merkel. ich habe fertig. tanti saluti dal Atlantico. Antonio.

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