Israel ist ein Crashtest für den Westen

Meiner Meinung nach war es sowohl die Ablenkung des Westens als auch die Ablenkung der israelischen Politiker, die die Hamas und ihre Unterstützer ermutigt haben, ihren Terrorkrieg zu beginnen. Der schwächelnde Westen braucht eine Strategie.

Wie konnte Israel so etwas zulassen? Als Bilder von Motorrädern aus dem Gazastreifen auftauchten, die durch Löcher in Israels „intelligentem“ Grenzzaun rasten, von Gleitschirmfliegern, die bei einem Festival in der Wüste landeten, von ganzen Familien, die entführt oder in ihren Häusern abgeschlachtet wurden, gab es nur eine Frage, die jeder westliche Analyst auf den Lippen hatte: Wie konnte Israel das zulassen? Die wichtigere Frage lautet jedoch: Was wird der Westen selbst jetzt tun?

Der Angriff, der zu Lande, zu Wasser und aus der Luft erfolgte, war sowohl vom Ausmaß als auch von der Barbarei her beispiellos. Es war eine Demonstration von ISIS-ähnlicher Grausamkeit. Aber er war auch der Höhepunkt einer ausgeklügelten Militäroperation, die wahrscheinlich seit Monaten geplant war und von mindestens einer ausländischen Macht unterstützt wurde. Infolgedessen wurden mehr als 1.400 Israelis abgeschlachtet, und zweifellos werden in den kommenden Tagen und Wochen noch mehr folgen. Noch einmal: Wie konnte Israel mit seinem riesigen Geheimdienstapparat und seiner jahrzehntelangen Erfahrung so etwas zulassen?

Die offensichtliche Antwort – zumindest die, die in den Denkfabriken in Europa und Amerika die Runde macht – lautet, dass Israel abgelenkt war. Und wenn man es mit so entschlossenen Feinden wie der Hamas und dem Iran zu tun hat, die immer auf der Suche nach dem perfekten Moment für einen Angriff sind, kommt Ablenkung einem Selbstmord gleich.

Kein Ersatz für eine Strategie

Daran ist sicherlich etwas Wahres dran. Wie Abraham Lincoln es ausdrückte: „Ein Haus, das durch sich selbst geteilt wird, kann nicht stehen.“ Israel, das durch interne Unstimmigkeiten über Netanjahus Reformversuch des Obersten Gerichtshofs zerrissen ist, ist seit Monaten gelähmt. Anstatt auf die existenziellen Bedrohungen innerhalb und außerhalb seiner Grenzen zu blicken, streiten sich die Politiker über die Justizreform. Und wenn die Führung einer zivil geführten Demokratie von einem so komplexen Thema besessen ist, wer führt dann das Militär? Was können die Richter von morgen für die Opfer des Terrorismus von heute bewirken?

Doch die Gefahr der Ablenkung ist nicht nur eine israelische Gefahr. Sie ist in der von den USA geführten westlichen Welt ebenso weit verbreitet, wenn nicht sogar noch weiter verbreitet. In den letzten Jahren haben sich alte Fronten im Kampf der Kulturen aufgetan (der US-amerikanische Politikwissenschaftler und Autor Samuel Huntington († 2008) lag mit jedem Tag richtiger). Amerika ist nun indirekt in die Kämpfe gegen Putins Russland und die vom Iran unterstützte Hamas verwickelt, während China das Ganze genau beobachtet und vielleicht ein Auge auf Taiwan geworfen hat. Die neue antiwestliche Achse zwischen Khamenei, Putin und Xi wirkt zunehmend bedrohlich. Und wie sollen wir darauf reagieren?

Wir können einerseits dankbar sein, dass sowohl das Vereinigte Königreich als auch die USA Israel ihre Unterstützung zugesagt haben, so wie sie der Ukraine ihre Unterstützung gegen Putin zugesagt haben. Aber diese Entscheidungen sind andererseits nicht schwer zu treffen. Ein paar Worte hier, eine Pressekonferenz dort. Dies ist kein Ersatz für eine Strategie, die derzeit schmerzlich vermisst wird.

Rhetorik ins Apokalyptische steigern

Im Vereinigten Königreich sind die beiden großen politischen Parteien mit dem Zirkus rund um die in dieser Jahreszeit üblichen Konferenzen beschäftigt und tun ihr Bestes, um mit einem gewissen Anschein von Seriosität aus diesem Spektakel hervorzugehen. In den USA ist die Lage noch weniger vertrauenserweckend. Während die Demokraten die Rückkehr Trumps ins Weiße Haus als Bedrohung für die Demokratie selbst sehen und die Republikaner 2024 als Test für die Integrität der Wahlen betrachten, ruhen die Feinde Amerikas nicht und suchen nach einem Leck. Dem Repräsentantenhaus fehlt ein Sprecher. Ein Stillstand der Regierung scheint unvermeidlich. Wir sind abgelenkt, und die anderen wissen das. Meiner Meinung nach war es sowohl die Ablenkung des Westens als auch die Ablenkung der israelischen Politiker, die die Hamas und ihre Unterstützer ermutigt haben, ihren Terrorkrieg zu beginnen.

Das soll nicht heißen, dass die Themen, die den Medienzyklus und den politischen Diskurs beherrschen, nicht wichtig sind: Einwanderung, Kriminalität, Klima. Aber sind sie existenziell? Sicherlich nicht, wenn man sie mit der Bedrohung Israels durch seine böswilligen Nachbarn vergleicht; und schon gar nicht, wenn man sie mit der Bedrohung vergleicht, die ein ermutigter Naher Osten für einen Westen darstellt, der in Bezug auf terroristische Bedrohung selbstgefällig geworden ist. In einer gut funktionierenden Demokratie gäbe es Klarheit über die Notwendigkeit, Israel mit mehr als nur schönen Worten zu unterstützen. Wir würden die Rhetorik nicht ins Apokalyptische steigern; wir würden uns nicht mit internen Machtkämpfen ablenken.

Sehen Sie sich nur an, wie der Westen versucht hat, das Gemetzel in Israel zu verarbeiten – und dabei gescheitert ist. Gefangen in einer manichäischen Falle, die moralische Gewissheit über die Realität stellt, ist es den Anti-Israel-Aktivisten gelungen, uns weiter abzulenken. Sie verzerren die Realität, indem sie vorgeben, dass Israel einfach nur den Preis für seine Aggression zahlt; dass es, wie der ehemalige Labour-Chef Jeremy Corbyn es ausdrückte, seine „Besetzung“ des Gazastreifens beenden muss. (Ironischerweise sind es genau diese Leute, die Israel vor einer Invasion des Gazastreifens warnen – ist er nun besetzt oder nicht?) Weitere Ablenkungen folgen: in Form von Protesten vor israelischen Botschaften, in jenen Verrenkungen, die es Aktivisten ermöglichen, Angriffe auf jüdische Geschäfte und Restaurants zu rechtfertigen.

Mit Schadenfreude zusehen

Infolgedessen sind viele Menschen nicht in der Lage, sich auf die wenigen eindeutigen Fakten in diesem endlosen Konflikt zu einigen: dass die Hamas mehr von ihrem Hass auf das jüdische Volk als von ihrer Liebe zu den Palästinensern angetrieben wird; dass die Hamas routinemäßig Palästinenser tötet, foltert und verfolgt, die sich um Frieden mit Israel bemühen; dass die Hamas, lange bevor sie die Leichen israelischer Frauen durch ihre Straßen paradierte, palästinensische Kinder als menschliche Schutzschilde benutzte.

Und nun kommt noch hinzu, dass der Iran, Russland und China mit Schadenfreude zusehen. Sie sehen die Anarchie in Israel und eine tiefe Wunde in der westlichen Allianz. Die Paläste in Teheran, Moskau und Peking blicken nach Westen, und was sehen sie? Aktivisten auf dem Times Square, die zu einer neuen Intifada aufrufen, jüdische Schulkinder, die aufgefordert werden, ihre Uniform nicht zu tragen, nationale Fernsehsender, die Hamas-Apologeten Sendezeit einräumen. Unsere Schwäche ist für die Welt deutlich sichtbar.

Der Westen muss sich also entscheiden. Zerfallen wir in zerstrittene Fraktionen oder bekräftigen wir unsere dauerhaften Werte und höchsten Ideale auf der Weltbühne? Stehen wir in Taten wie in Worten an der Seite Israels oder stürzen wir in einen Abgrund von Ablenkung und Spaltung? Dies könnte die wichtigste Entscheidung sein, die unsere Generation zu treffen hat.

Dieser Beitrag erschien zuerst bei Unherd.

 

Ayaan Hirsi Ali ist Politikwissenschaftlerin, derzeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hoover Institution der Stanford University. Von 2003 bis 2006 war sie Mitglied des niederländischen Parlaments. Im Parlament konzentrierte sie sich auf die Förderung der Integration nichtwestlicher Einwanderer in die niederländische Gesellschaft und die Verteidigung der Rechte muslimischer Frauen. Für ihr Wirken wurde sie mit zahlreichen Auszeichnungen und Preisen geehrt. Sie hat mehrere Bücher geschrieben, darunter Infidel (2007), Nomad: from Islam to America, a Personal Journey through the Clash of Civilizations (2010) and Heretic: Why Islam Needs a Reformation Now (2015).

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Winfried Jäger / 18.10.2023

Erzähl mal einem Perser, er wäre Araber oder einem Türken. Palästinenser sind Araber und sie werden von ihren Volksgenossen scheinbar im Stich gelassen, weil sie sie nicht aufnehmen wollen. Was alle vereint ist ihr Glaube und das Ziel die Welt dem Glauben an Allah und seinem Gesandten zu unterwerfen. Christen und Juden dürfe ihren Glauben behalten, müssen dafür aber in Knechtschaft leben. Der Rest wird den Tieren gleich gestellt. Das ist der Islam in seiner ungefiltern reinen Lehre. Dagen ist der Faschismus ein Kindergeburtstag von verblendeten Spinnern.

Silas Loy / 18.10.2023

@ Walter Haller - Dass die Hamasgroupies friedlich demonstrieren und ihren Hass zelebrieren dürfen, nennt man Versammlungsfreiheit und Meinungsfreiheit. Wenigstens in Island scheint das noch zu funktionieren.

Silas Loy / 18.10.2023

Wenn die Innere Sicherheit durch Mörderbanden bedroht wird, ist dies eine polizeiliche Aufgabe, keine militärische. Man kann zur Unterstützung der Polizei auch Militär einsetzen, es bleibt aber Verbrechensbekämpfung. Und die Hamaskiller sind keine Kämpfer, sondern Verbrecher, sie kämpfen nicht gegen andere Kämpfer, sondern töten wahllos wehrlose Zivilisten und feuern auch Raketen ebenso wahllos auf zivile Ziele. Erst Israel hebt mit der geplanten militärischen Operation in Gaza das polizeiliche Problem auf die politische Ebene, auf die internationale politische Ebene sogar, natürlich unterstützt von den unbelehrbaren USA. Es noblitiert damit Kriminelle zu Kämpfern und gibt damit denen recht, die diese Leute als Kämpfer sehen wollen, als Kämpfer für ihre politische Sache, rund um die Welt. Das ist ein schwerer Fehler. Dazu kommen noch ganz praktisch völkerrechtliche Fragen, mangelnde Erfolgsaussichten, das Leiden der von den israelischen Militärschlägen betroffenen Zivilbevölkerung und überhaupt gewaltige Zerstörungen dazu, die Israel enorm viel Kritik einbringen werden. Das ist völlig überzogen, das ist dumm und brutal, das kann es nicht sein.

D.Graue / 18.10.2023

Russland musste irgendwie noch mit rein. Werte Autorin, kennen Sie Russen, waren Sie schonmal in diesem Land? Schadenfreude? Sie offenbaren lediglich ein Bild voller Vorurteile und Stereotype. Schade.

Chris Groll / 18.10.2023

@Marc Greiner, wie heißt das Zitat. Nicht jeder Moslem ist ein Terrorist, aber jeder Terrorist ist ein Moslem. @dina weis, genau so ist es. Da braucht man sich nur den Koran durchzulesen. Allerdings wollen das die Schlafmützen im Westen nicht wahrhaben. Frau Aayan Hirsi Ali, wie eimmer ein guter Artikel. Wer die Autbiagraphie von Frau Hirsi “Mein Leben meine Freiehit” gelesen hat, der weiß, daß sie weiß wovon sie spricht.

A. Ostrovsky / 18.10.2023

>>Israel ist ein Crashtest für den Westen<<  Israel ist zu allererst ein Crashtest für das Versprechen, dass der Staat Israel eine Lebensversicherung für das Volk der Juden ist. Wenn er das nicht ist, dann ist er gescheitert. Wenn es keine Bedrohung des Lebens gibt, braucht es keine Lebensversicherung. Der Grund für das Scheitern kann nicht die Bedrohung sein, sondern das Versagen der Versicherung.

Steve Acker / 18.10.2023

Klaus Keller danke dass sie Ruanda erwähnen. Das war wirklich ein Genozid-Versuch.  Ziel war die Tutsi komplett auszulöschen. Und heute leben diese beiden Völker wieder friedlich zusammen. Versöhnung ist möglich.

A. Ostrovsky / 18.10.2023

@Steve Acker : >>Zu dem Thema : wie konnte es passieren dass sich Israel so überrumpeln liess. Wenn man etwas bewacht und kontrolliert, und es passiert lange lange nichts, dann wird man oft nachlässig. Das ist menschlich.<<  Eine hochtechnologische Grenzanlage ist kein Mensch. Die versagt vielleicht wenn sie an einer Stelle beschädigt wird. Aber wenn es an 29 Stellen massive Durchbrüche der Anlage gab, hat sie ihren Alarm 29-fach in die ganze Welt gesendet und die Empfänger des Alarms mussten schon absolut taub sein, darauf nicht zu reagieren. Der Faktor Mensch setzt hinter der Technologie an. Aber das ist mit Nachlässigkeit nicht zu erklären. Da muss es einen anderen Begriff geben, der genauer trifft.

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