112-Peterson: Wenn ich heute Kinder hätte ...

Ich wurde gefragt, ob ich etwas anders machen würde, wenn ich meine Kinder in der heutigen Zeit großziehen würde. Ich würde auf jeden Fall mit ihnen in die Kirche gehen.

Ich wurde gefragt, ob ich etwas anders machen würde, wenn ich meine Kinder in der heutigen Zeit großziehen würde (Jordan B. Peterson hat mit seiner Frau Tammy zwei erwachsene Kinder, Mikhaila, geb. 1992, und Julian, geb. 1995, Anm. d. Red.) und welchen Rat ich für heutige Eltern habe.

Ich glaube, meine Frau und ich haben ganz gute Arbeit geleistet, ich bin über meine Kinder sehr glücklich. Allerdings war es ein Fehler, dass wir mit ihnen nicht in die Kirche gegangen sind. Ich würde sagen, dass unser familiäres Umfeld grundsätzlich ziemlich religiös orientiert war. Es ging einerseits sehr verspielt und andererseits sehr ernsthaft zu. Und die Kinder nahmen viel religiöse Disziplin in sich auf. Wir brachten ihnen bei, mit Anderen zu verhandeln und für sich einzustehen. Beide sind darin jeweils sehr gut geworden.

Aber sie hatten keine Gelegenheit, die biblischen Geschichten kennenzulernen. Ich ging früher in den Kindergottesdienst und konnte es eigentlich nie leiden. Aber was soll's? Im Zuge des beginnenden Rückgangs der Religion sagten damals die Zyniker in meiner Heimatstadt, dass die Christen, die am Sonntag für eine Stunde in die Kirche gehen, den Rest der Woche böse und hinterhältig seien – also pure Heuchler. Schön und gut.

Aber womit will man das Ganze ersetzen? Nicht einmal am Sonntag versuchen, gut zu sein? Das soll die Verbesserung darstellen? Man nimmt sich also am Sonntag eine Stunde, um dümmlich und heuchlerisch zu versuchen, gut zu sein. Das ist zwar ziemlich armselig, aber erscheint mir immer noch besser zu sein, als es niemals zu versuchen.

Wir modernen Menschen sind sehr narzisstisch

Abgesehen davon, dass ich kaum still sitzen konnte und eigentlich überhaupt nicht dorthin wollte, lernte ich im Kindergottesdienst dennoch die biblischen Geschichten in einer gewissen Tiefgründigkeit kennen. Und das war unglaublich nützlich. Und als ich später Mitte der 80er als Dozent an der Uni begann, Seminare zum Thema („Maps of Meaning“ (Deutsch: „Landkarten der Bedeutung“) zu geben, kannte jeder, der das Seminar belegte, die grundlegenden biblischen Geschichten.

Im Jahr 2017 hingegen waren ungefähr 60 Prozent der Studenten überhaupt nicht mehr mit den biblischen Geschichten vertraut. Es war also beinahe unmöglich, das verdammte Seminar zu geben. Denn im Grunde hätte ich zuerst eine Seminarreihe zum Thema „biblische Geschichte“ halten müssen, um im Anschluss eine Reihe zum Thema „religiöse Narrative“ geben zu können.

Ich kann jedenfalls nicht sagen, dass besagte Studenten ihre Wissenslücken mit irgendeiner anderen großartigen Weisheit gefüllt hatten. Sie kannten stattdessen überhaupt keine Geschichten. Ihre Eltern hatten sich wahrscheinlich gedacht, dass sich ihre Kinder ihren Weg durch die ganze wunderbare Welt religiösen Glaubens bahnen sollen. Aber wie zum Teufel sollten sie mit zehn Religionen klarkommen, wenn sie noch nicht einmal eine kennen?

Also von daher hätten wir es an diesem Punkt anders machen müssen. Aber immerhin wurde unsere Enkeltochter kürzlich getauft, und wir haben uns alle sehr darüber gefreut. Mir wurde außerdem Folgendes klar: Wir modernen Menschen sind sehr narzisstisch, und als 13-Jähriger fiel ich definitiv ebenfalls in diese Kategorie. Ich dachte damals, dass ich mit vielem an der Kirche nicht einverstanden war. Ich realisierte aber überhaupt nicht, dass es gar keine Rolle spielte, was ich 13-Jähriger damals dachte. Warum sollte meine Meinung in dieser Hinsicht relevant sein? Ich hatte keine Ahnung, und nicht einmal ich selber hätte meine Gedanken ernst nehmen sollen.

Viele weigern sich, sich in einer zivilgesellschaftlichen Organisation, der Kirche oder einer Partei zu engagieren. Sind die nicht alle heuchlerisch und korrupt? Ja, sind sie, genauso wie andere auch. Wenn diese Organisationen also alle kaputt und wir anderen alle so weise und wundervoll sind, warum dann nicht eintreten und sie auf Vordermann bringen?

Dies ist ein Auszug aus einem Video von Jordan B. Peterson.

Foto: jordanbpeterson.com

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Leserpost

netiquette:

Gunnar Holler / 19.07.2023

Biblischer Unsinn hilft nicht gegen ÖkoGenderSozenUnsinn. Beschäftigt euch mit Physik, Chemie, lest Adam Smith, lernt Programmieren. Ist besser.

Marcel Seiler / 19.07.2023

Auch ich empfinde die biblischen Geschichten, insbesondere die alttestamentarischen, die ich zwischen 6 und 10 im Kindergottesdienst erzählt bekam, als einen großen seelischen Schatz. Und ich bin mit 20 aus der Kirche ausgetreten – nicht, wegen der politischen Ausrichtung, sondern weil die evangelische Kirche schon damals keinen spirituellen Zugang mehr hatte. Trotzdem: Die biblischen Geschichten sind klasse.

Fred Burig / 19.07.2023

Sehr geehrter Herr Peterson, für mich sind die Kirche als Institution und der christliche Glaube schon lange nicht mehr vereinbar! Sich in eine Gemeinschaft der Gläubigen zu begeben kann persönlich bereichernd sein - aber der Glaube an Gott ohne Kirchgang und öffentlicher Zurschaustellung - ist und bleibt auch eine individuelle Stärke! MfG

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