An meiner ersten Berufsstelle lernte ich die Bedeutung angemessener Kleidung kennen. Ich musste für die Umweltbehörde zu kritisch-ablehnenden Industrie-Veranstaltungen; dort hat es mir sowohl inneren Rückhalt gegeben als auch gegenüber dem Publikum Ernsthaftigkeit gezeigt, dass ich korrekt und seriös gekleidet auftrat. Für Vorträge bei NGOs war man ohne Krawatte ok, bei Industrieverbänden immer mit gutem grauen oder dunkelblauem Anzug. Abends auch mit schwarzem Jackett. Und immer mit einem serösen Schlips. Das sind nicht beliebige Äusserlichkeiten, sondern verdeutlichen den Willen, auf gleicher Augenhöhe sprechen zu wollen und sprechen zu können. Man kann sich auch durchkämpfen, wenn man schlampig gekleidet kommt, aber es ist unendlich viel schwerer. Und Etliche erreicht man nicht.
“Mode entwickelt sich immer von oben nach unten.” Ach ja? Das war einmal. Empfehlenswerte Lektüre: Paul Fussel über das Prole Drift Syndrom, leider nicht in deutscher Übersetzung, was allein schon Bände spricht. Kaum daß die Temperaturen erträglich werden, sieht man sie wieder im öffentlichen Raum, erwachsene Männer in kurzen Hosen. Respektlos, schamlos, piefig, frei jeder Ästhetik, einfach ekelhaft. Und die Frauen? Mehr eingepackt statt angezogen, Farbenlehre ungenügend. Keine Pariserin oder Römerin würde so rumlaufen, wie es deutsche Frauen tun.
Autor Peterson hat recht. Auch ich kleide mich nicht wirklich wie ein Erwachsener. Ich wollte nie wie die Generation meiner Eltern sein. Insbesondere die Unterwürfigkeit, die sie uns abverlangten, wollte ich nie jemand anderem abverlangen. Weitere Faktoren: Diese Gesellschaft zeigt Erwachsenen keinen Respekt. Sie erlaubt es Männern nicht, Männer zu sein. Warum sollen sich Männer als erwachsene Männer kleiden wollen?
So sehr ich Herrn Peterson sonst schätze, hier muss ich ihm zumindest teilweise widersprechen. Es ist sicher richtig, dass manche Leute herumlaufen, als ob sie von der Fernsehcouch kämen - Trainingsanzug und ähnliche Fürchterlichkeiten - aber darob Anzug und Krawatte als modisches Erwachsenenbekenntnis zu proklamieren will mich gar nicht überzeugen. Es scheint im Gegenteil so, dass diese genannten Kleidungsstücke eher die Uniform der Angepassten, der Opportunisten, der beruflichen Streber sind, ein Ausdruck absoluter Konformität. Das Gewand des Bürgertums ruft in mir jedenfalls Assoziationen an eine bürgerliche Welt hervor, die sich in Formen und Regeln schickt - und oft auch darin erschöpft -, ein textiles Manifest des absoluten Willens, die Form über den Inhalt zu stellen.
So wie die überall verbreitete und respektlose Anduzerei einer pöbelhaften Anmache gleicht, so ist das “Sie” ein Zeichen von Respekt und die alters- und situationsabhängige Kleidung ein Ausdruck von Wertschätzung. Und sie ist Ausdruck einer Selbstpositionierung. Früher gabs den - immer noch zeitlosen - Spruch. “Wie du kommst gegangen, so wirst du empfangen”. In dieser Gesellschaft gibt es inzwischen kein Schamgefühl mehr, nichts ist den Leuten mehr peinlich, kein Aufzug zu lächerlich und infantil genug. Schon Lagerfeld wußte:. “Wer im Jogginganzug rumläuft, hat die Kontrolle über sein Leben verloren.” Aber es ist inzwischen nicht mehr nur der Jogginganzug.
Kürzlich erhielt ich einen Brief von einer großen deutschen Telefongesellschaft. Der Inhalt lautete etwa so: “Hiermit bestätigen wir dir, dass wir dir deinen gewünschten Service eingerichtet haben.” Ich zuckte kurz zusammen, verzichtete dann aber doch darauf, der Telefongesellschaft mitzuteilen, dass ich weder im Sandkasten spiele, noch als Politiker irgend welche geistigen Sandkastenspielchen mache.
Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.