Von Anette Heinisch. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat mit seinem am 15.08.2017 veröffentlichten Vorlagebeschluss dem EuGH fünf sehr konkrete Fragen zu dem seit 2015 laufenden Anleihekaufprogramm der EZB gestellt (BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 18. Juli 2017 - 2 BvR 859/15 - Rn. (1-137)). Dabei geht es inhaltlich um ein Rahmenprogramm der EZB, das „Expanded Asset Purchase Programme“ (EAPP), das seinerseits aus vier Unterprogrammen besteht und die Anleihe-/ Wertpapierkäufe der EZB ermöglicht. Rein praktisch ist es so, dass die Notenbanken der Länder wesentliche Teile selber kaufen, nur ein gewisser Anteil wird direkt von der EZB erworben. Die Einzelheiten beschließt der Rat der EZB, der sie anschließend in seiner Presseerklärung der geneigten Öffentlichkeit verkündet.
Insgesamt rund 1750 Beschwerdeführer sind vor allem gegen das Unterprogramm zum Ankauf von Wertpapieren des öffentlichen Sektors an den Sekundärmärkten, dem Public Sector Purchase Programme (PSPP) mit teils unterschiedlichen Akzenten vorgegangen. Sie haben moniert, dass die EZB damit eine Kompetenzüberschreitung beginge und außerdem das Haushaltsrecht des Bundestages verletze. Dieses ist ein nicht übertragbarer Teil des Verfassungsrechts.
Das BVerfG führt dazu aus: „Es ist Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts zu prüfen, ob Maßnahmen von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union auf ersichtlichen Kompetenzüberschreitungen beruhen (aa) oder den nicht übertragbaren Bereich der Verfassungsidentität berühren (bb) mit der Folge, dass deutsche Staatsorgane weder an ihrem Zustandekommen noch an ihrer Umsetzung mitwirken dürfen (cc).“ (BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 18. Juli 2017 - 2 BvR 859/15 - Rn. 51).
Entgegen vielen Stimmen in der Presse weist das BVerfG also ausdrücklich auf seine eigenes Prüfungsrecht hin. Die Prüfung der Kompetenzüberschreitung, genannt „ultra – vires – Kontrolle“ erfolgt zweistufig: Die Kompetenzüberschreitung muss offensichtlich sein und es muss sich um eine strukturell bedeutsame Verschiebung zulasten mitgliedstaatlicher Kompetenzen handeln. Die Identitätskontrolle soll verhindern, dass der EU oder anderen Stellen Hoheitsrechte jenseits des für eine Übertragung offenstehenden Bereichs eingeräumt werden. Dieses umfasst auch solche Maßnahmen, die eine entsprechende Wirkung entfalten und dem faktisch gleichkommen.
Noch einmal das BVerfG: „Es dürfen zudem keine dauerhaften völkervertragsrechtlichen Mechanismen begründet werden, die auf eine Haftungsübernahme für Willensentscheidungen anderer Staaten hinauslaufen, vor allem wenn sie mit schwer kalkulierbaren Folgewirkungen verbunden sind. Jede ausgabenwirksame solidarische Hilfsmaßnahme des Bundes größeren Umfangs im internationalen oder unionalen Bereich muss vom Bundestag im Einzelnen bewilligt werden (BVerfGE 132, 195 <239 ff. Rn. 106 ff.>; vgl. auch BVerfGE 129, 124 <177 ff.>).“ (BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 18. Juli 2017 - 2 BvR 859/15 - Rn. 56 am Ende, 57).
Karlsruhe sucht die Entscheidung auf der "Überholspur"
Das BVerfG wird in dem folgenden Absatz noch deutlicher: „Ultra-vires-Akte und Beeinträchtigungen der von Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Verfassungsidentität haben am Anwendungsvorrang des Unionsrechts nicht teil. Da sie in Deutschland unanwendbar sind, entfalten sie für deutsche Staatsorgane keine Rechtswirkungen. Deutsche Verfassungsorgane, Behörden und Gerichte dürfen weder an ihrem Zustandekommen noch an ihrer Umsetzung, Vollziehung oder Operationalisierung mitwirken (vgl. BVerfGE 89, 155 <188>; 126, 286 <302 ff.>; 134, 366 <387 f. Rn. 30>; 142, 123 <207 Rn. 162>).“
Es bedeute auch keinen Widerspruch zur Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes, „wenn das Bundesverfassungsgericht unter eng begrenzten Voraussetzungen Maßnahmen von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union für in Deutschland ausnahmsweise nicht anwendbar erklärt“ (BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 18. Juli 2017 - 2 BvR 859/15 - Rn. 58). Denn es würde mit dieser Kompetenz zurückhaltend und europarechtsfreundlich umgehen sowie einer Prüfung der Maßnahme die Auslegung zugrunde legen, welche der EuGH dieser im Rahmen einer Vorabentscheidung gebe.
Nachfolgend macht das Gericht dann in den einzelnen Punkten sehr detailliert deutlich, dass es sowohl eine Kompetenzüberschreitung wie auch eine Verletzung des Haushaltsrechts durch das angegriffene Anleihekaufprogramm für möglich hält. Da nicht gesichert ausgeschlossen ist, dass erhebliche Risiken auf den deutschen Bundeshaushalt (und damit dem Steuerzahler) zukommen, ist nach jetzigem Stand das Programm wohl nicht in Ordnung.
Es will die Entscheidung auch keineswegs auf die lange Bank schieben, denn es hat ausdrücklich die „Überholspur“ gewählt, nämlich die Durchführung des beschleunigten Verfahrens nach Art. 105 der Verfahrensordnung des EuGH beantragt.
Es kann natürlich sein, dass die Politik das Verfassungsgericht wieder „einfängt“, denn dieses droht aus Sicht der politisch Verantwortlichen gerade, das Konstrukt immer tieferer Vermengung verschiedener Staatshaushalte zu einem europäischen „Salat“ zu sprengen. Wer aber die heute veröffentlichte Entscheidung liest, erkennt nicht nur die intensive Befassung des Gerichts mit der Materie, sondern auch den gerissenen Geduldsfaden.
Was dann aber aus den ehrgeizigen Plänen eines gemeinsamen Euro – Haushalts mit Euro – Bonds light würde, wie jetzt von Macron geplant und von deutschen Politikern inklusive Merkel freudig unterstützt, ist mehr als offen.
Die Autorin ist Rechtsanwältin