In den Wirtschafts- und Geschichtswissenschaften ist es Usus, dass wir es seit der Marktöffnung in den Siebzigern mit einer “zweiten Globalisierung” zu tun haben. Der Begriff wurde freilich schon in anderen Kontexten verwendet, aber als die “erste Welle” gilt der Durchbruch des Freihandels in Großbritannien, etwa Mitte des 19. Jahrhunderts. In all Ihrer Häme auf die Jüngeren sollten sie sich zwei Sachen eingestehen: 1) freie Märkte und freie Einwanderung gehören ihrem Wesen nach zusammen. Wie das genau ausgestaltet wird, und ob die Begrenzung des einen nicht auch automatisch zu einer Begrenzung des anderen führen muss, kann ja dann verhandelt werden - wir sehen das gerade bei den internen Debatten der Linkspartei. Marine Le Pens Ablehnung von TTIP ist da nur konsequent. 2) Die Globalisierung von heute hat einen anderen Charakter als 1979. Durch die enormen informationstechnologischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte ist die Welt eben tatsächlich im Guten wie im Schlechten näher zusammengerückt. Für die Älteren ist dies nicht immer leicht zu verdauen, für die Jungen ist es normal. Klar ist auch, dass die, die derzeit am lautesten vor dem Verfall warnen, die ersten sein werden, die sich mittels Auswanderung davon machen: sie kritisieren Zuwanderung und Grenzenlosigkeit, machen aber selbst von dieser Option Gebrauch. Die Analogie mit jungen syrischen Männern, die sich angeblich vor dem Kampf in ihrer Heimat gegen ISIS drücken, ist dabei ein lustiger Zufall. Der Verweis auf den europäischen Kolonialismus ist im übrigen verräterisch. Der sorgte nämlich für die erste Welle der Einwanderung - falls es denn überhaupt als solche zu bezeichnen ist. Britische oder französische Einwanderungsgegner wie Nigel Farage oder Marine Le Pen blenden interessanterweise diese sehr lange Tradition ihrer Geschichte aus und tun so, als ob die Geschichte irgendwann zwischen 1947 oder 1963 anfing oder es davor eine 400-jährige Pause gab. Aber egal ob in Accra oder Aden, ob Wellington oder Waziristan, ob in Kingston oder Kimberley, ob London oder Lahore - sie alle waren Bürger des britischen Empire. Was nach dem Commonwealth Act geschah, glich damit formaljuristisch mehr dem Umzug eines Sachsen nach Bayern als dem eines Ost-Anatolen nach West-Berlin.
Kleine Korrektur: Eingesperrt war Frau Merkel in der DDR nicht. Soviel ich weiß, gehörte sie zu den als besonders regimetreu angesehenen Reisekadern, die z.B. wissenschaftliche Kongresse im “nichtsozialistischen Ausland” besuchen durften und dafür Berichte über das Verhalten anderer mitreisender Kader abliefern mussten.
Wer auch immer die Globalisierung erfunden hat: Die Kreuzzügler, die europäischen Kolonialmächte, die Nazis oder die Kanzlerin: Wichtig ist, das wir am Ende schuld sind. Und dass wir diese Schuld an den Armen und Beladenen dieser Welt begleichen. Notfalls mit einer neuen “Benzinabgabe” - die Steurn sollen ja für die Masseneinwanderungen nicht erhöht werden…
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