Von Jesko Matthes.
Morgen darf ich in Niedersachsen wieder vor die Wahlurne treten. Zunächst halte ich das für ein ziemliches Privileg. Vor Kurzem traf ich einen Bürger der 1990 dahingeschiedenen DDR, der diesen Akt, bis auf die erste und letzte Volkskammerwahl, als „Falten gehen“ erinnert, weil es zuvor nur eine Einheitsliste gab, die es abzunicken galt. Ganz Mutige hätten damals einen Bleistift mit zur Wahl genommen, den es im DDR-Wahllokal nur auf Nachfrage gab, die für sich schon peinlich oder sogar gefährlich hätte sein können, ebenso wie die Benutzung der Wahlkabine, falls es denn eine gab. Heimlich hätte man dann im Gedrängel der zur Pflicht erklärten Wahl mit dem mitgebrachten Bleistift einen Kandidaten streichen können.
Insofern komme ich mir blöde und arrogant vor, wenn ich über Wahlen stöhne, die gleich, geheim und frei sind – und damit wirklich demokratisch. Allerdings kann man über den Zustand der Parteien schon ins Grübeln geraten. Was ist aus den „guten alten Tanten“ SPD und CDU geworden, wenn sie sich ihre zuletzt immer öfter gemeinsamen Fehlentscheidungen, nicht nur in der Bildungspolitik, aggressiv um die Ohren schlagen wie zuletzt Stephan Weil (SPD) und Bernd Althusmann (CDU) im NDR , weil sie ein demoskopisches Kopf-an-Kopf-Rennen irgendwie überstehen müssen? Das interessante Duell klang über weite Strecken nicht wie das Herausstellen eigener programmatischer Schwerpunkte, sondern eher wie die Zuweisung von bereits gemachten Fehlern - immer auch an die andere Seite. Und, leider, diese Argumentation hat tatsächlich viel für sich.
Es gab Zeiten, und in denen schwelge ich ganz gern, da bediente die SPD knallhart die Interessen der Arbeitnehmer, sorgte Anfang der 1970er Jahre für Mitbestimmung, Betriebsräte, satte Lohnerhöhungen – während die CDU ebenso knallhart vor der Lohn-Preis-Spirale warnte, die Arbeitgeber und den Mittelstand unterstützte, unter Helmut Kohl dann erstmals auch den steuerlichen „Mittelstandsbauch“ anging.
Gewiss hatten SPD und CDU linke und rechte Flügel, thematische und sogar inhaltliche Überschneidungen, auch mit der immer wieder koalierenden FDP. Jedoch war „Klientelpolitik“ noch kein Schimpfwort; und so hatten auch die Liberalen ihr Klientel in Mittelstand und Arbeitgeberschaft, und die Grünen kanalisierten, nebst Inhalten teils weit links der SPD-Linie, erstmals auch ökologische Interessen ihres Klientels ins Parlament.
„Es war nicht alles schlecht…“
Der politische Streit wurde mit entsprechender Schärfe geführt, allerdings mit grundsätzlichen Entwürfen von sozialer Marktwirtschaft, Arbeitnehmerinteressen, liberalen Zielen in Wirtschaft und Justiz, grünen Entwürfen für eine ökologische und multikulturelle Zukunft. Prompt geht es mir wie einem „Ostalgiker“: „Es war nicht alles schlecht…“.
Für mich hat sich das alles erst verschlechtert, als die Parteien vergaßen, ihre Grundsätze im Fokus zu behalten – als es sich auf eigenartige Weise erwies, dass, etwa mit dem Ende der Ära Kohl, plötzlich die SPD des Gerhard Schröder und die Grünen des Joschka Fischer die „konservativen“ Reformen durchführen und Auslandseinsätzen der Bundeswehr zustimmen mussten, während die spätere Merkel-CDU nach und nach die egalitären, ökologischen und multikulturellen Inhalte so „erfolgreich“ bediente, dass es die SPD zuletzt fast so hart traf wie die CDU selbst, gemessen an den enormen Stimmverlusten.
Beide Volksparteien haben so ihr jeweils eigenes klassisches Klientel, so übrigens auch mich, teils schwer verunsichert – und Platz gemacht am linken wie am rechten Rand. Das ist nun einmal so und nicht mehr von heute auf morgen rückgängig zu machen. Auf diesem Weg suchen alle Parteien gerade ihren Platz, denn angestammte Plätze gibt es fast schon nicht mehr.
Allerdings wünsche ich mir eins: Den Mut der Parteien zu klassischer Klientelpolitik. Ich habe nichts dagegen, wenn Wirtschaft und Arbeitgeber in Baden-Württemberg meinen, grün wählen zu können. Dennoch bleibt meine Wahrnehmung grüner Inhalte eine andere. Ich habe nichts dagegen, wenn die CDU oder CSU Inhalte der SPD und der Grünen für sich mit Beschlag belegen. Dennoch bleibt meine Wahrnehmung christlich-sozialer Inhalte eine andere. Ich habe nichts gegen eine FDP, die verschwindet oder wieder auftaucht, wenn ihr als vielleicht einziger Partei eher zuviel als zuwenig Klientelpolitik mal vorgeworfen und dann wieder zugute gehalten wird.
Warum soll ich diese Partei wählen?
Am deutlichsten wird dieses Defizit an klientel-orientierter Politik, wenn man nicht fragt: Was soll ich wählen? Sondern, wenn man fragt: Warum soll ich diese Partei wählen? Und wenn derzeit alle über die AfD – und zeitweise, viel leiser, auch einmal über die Linkspartei – aufheulen, die beide eine sehr deutliche Klientelpolitik betreiben, dann frage ich mich, was daran denn so unnatürlich oder gar verwerflich ist, solange die „Volksparteien“ ihren Markenkern so bereitwillig und bis zur eigenen Unkenntlichkeit zur Disposition stellen.
Für mich lebt Politik ganz gewiss nicht von der Interessenvermischungen im Vorfeld von Wahlen, sondern vom streitigen, zukunftsorientierten Wahlkampf – der nicht nur die gemeinsamen Fehler der Vergangenheit entweder schön redet wie vor der Bundestagswahl oder erfolglos auseinander rechnet wie im Niedersachsenwahlkampf – und vom anschließenden parlamentarischen Streit und Interessenausgleich nach den Wahlen.
Diese Konturen, die „klare Kante“, sehe ich, und das ist äußerst bedauerlich, in der viel beschworenen „Mitte“ derzeit am wenigsten. Wieder trete ich also am kommenden Sonntag mit sehr gemischten Gefühlen an die Wahlurne. Und wünsche mir: Mut zur Klientelpolitik.