Jesko Matthes / 05.08.2017 / 10:03 / Foto: US.Navy / 1 / Seite ausdrucken

Hier spricht der Notarzt von Gerhard Schröder

Von Jesko Matthes.

Seit 1993 wohne ich, mit einer Unterbrechung von einem Jahr, im Landkreis Lüneburg, in Niedersachsen. So traf ich auch ein paar Mal auf den ein wenig jüngeren CDU-Abgeordneten Bernd Althusmann . Ich habe hier schon Einiges an Machtpolitik gesehen. Es gab auch lustige Zeiten. Unvergessen ist mir der Spruch Sigmar Gabriels, auf David McAllister angesprochen: „Ach, der Kettenhund von Wulff.“ Darauf McAllister: „Besser der Kettenhund von Wulff als der Mops von Schröder.“ Christian Wulff war damals Niedersächsischer Ministerpräsident.

2003 saß ich in Hannover beim „Griechen“, am Nachbartisch Sigmar Gabriel, späterer Ministerpräsident von Niedersachsen. 2004 war ich als Freelancer des ASB am Krankenhaus Gehrden ziemlich zufällig und plötzlich mit einem exotischen Ehrenamt betraut: Notarzt beim 60. Geburtstag von Gerhard Schröder im Theater am Ägidientorplatz in Hannover. So bekam ich unter anderem auch Wladimir Putin und Günter Grass zu sehen. Auch Paul Spiegel und den damaligen Bundespräsidenten Johannes Rau. „Ben Wisch“ saß da mit Udo Lindenberg und genoss Rotwein. Am Nebentisch spielte Otto Schily Skat. Und mir fiel auf, wie hoch gewachsen Thomas Gottschalk und Jürgen Trittin sind.

Es gab eine launige Rede Franz Münteferings, Lucy van Org trat auf, mit deren Bruder ich in Berlin zur Schule gegangen war, und zum Essen gab es Würstchen und Kartoffelsalat. Doris Schröder-Köpf schleppte mich in den frühen Morgenstunden auf die Tanzfläche, wo ich mich zappelnd zwischen den „Scorpions“ und Carsten Maschmeyer wiederfand. Irgendwann gegen Morgen sprach ich mit dem Kanzler, er saß rittlings auf seinem Stuhl. Er erzählte aus seiner Jugend, sprach von Fußball, er war sehr sympathisch. Er hieß Gerhard Schröder, Kanzler, ehemaliger Niedersächsischer Ministerpräsident. Ich kann Ihnen sagen: Niedersachsen ist immer gut für Überraschungen.

Niedersächsische Ministerpräsidenten machen seltsame Karrieren. Sie haben alle das Zeug für ganz oben und ganz unten. Der, den ich an dem erwähnten Abend traf, habe schon als Juso am Gitter des Kanzleramts gerüttelt: „Ich will da rein.“ 1998 beerbte er Helmut Kohl, und die kurze, politisch höchst bewegende Ära des machtbewussten Gerhard Schröder begann. Sie endete mit jener machtbewussten „Elefantenrunde“, in der er sich mit seinem Machtbewusstsein selbst eine Falle stellte. Ich war fassungslos. Damit hatte ich nicht gerechnet.

Tja, so ist das mit dem Gewissen der Abgeordneten.

Der elegante Christian Wulff, einst als Angela Merkels schärfster möglicher Konkurrent innerhalb der CDU gehandelt, ließ sich von derselben in der Nachfolge des glücklos-eingeschnappten Horst Köhler ins höchste Amt des Staates weg loben und erlebte wenig später sein eigenes Fiasko, in dem er, in einer mulmigen Mischung aus eigenem Ungeschick und politischer Korrektheit Dritter, seinen Abschied aus dem höchsten Staatsamt nehmen musste. Der kantige Schotte David McAllister (CDU) hingegen wurde schlicht abgewählt und von dem bislang stets sachlichen und bis zur Unkenntlichkeit unauffälligen Stephan Weil (SPD) ersetzt.

Tja, Niedersachsen ist erdverwachsen . Ob es so sturmfest ist, wie es das ebenso historische wie martialische niedersächsische Liedgut nahelegt, wird sich nun erneut zeigen. Eine Landtagsabgeordnete der „Grünen“, Elke Twesten, hat zur CDU gewechselt, und seitdem regiert Stephan Weil mit einer Minderheitsregierung. Twesten ist ein typisch niedersächsischer Nachname. Zur Etymologie findet sich nichts, aber sie dürfte niederdeutsch sein, mit dem englischen twist verwandt. Ich sagte ja: Niedersachsen ist immer gut für Überraschungen.

Der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ist natürlich längst klar, dass es sich bei dieser Wendung um die Ranküne (Stephan Weil, nun doch wenig gelassen: „Intrige“) einer Hinterbänklerin handelt. Tja, so ist das mit dem Gewissen der Abgeordneten. Mal jammert man über den „Fraktionszwang“ - aber, wenn es völlig anders läuft, dann muss es wohl mit Ehrgeiz und Machtbewusstsein zu tun haben. Schließlich liegt Elke Twestens Wirkungskreis in Rotenburg/Wümme, unweit des Wümmehofs, wo die Familie Preußen wohnt, die 1866 das Königreich Hannover annektierte. Hier in Niedersachsen müssen Sie mit allem rechnen. Auch damit, dass es vielleicht das Gewissen ist, vielleicht nur Ehrgeiz und Macht, die die Niedersachsen zu dem gemacht haben, was sie sind: sturmfest und erdverwachsen. Wir hier haben bald die Wahl.

Foto: U.S. Navy via Wikimedia Commons

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Helmut Driesel / 05.08.2017

Wen Sie im fortgeschrittenen Verlaufe der Feier alles wiederbeleben mussten, unterliegt natürlich der ärztlichen Schweigepflicht. Eine funktionierende Regierung sollte aber nicht daran scheitern dürfen, dass einzelne Abgeordnete für sich in einer anderen Partei eine bessere Prognose sehen. Sonst könnte man nämlich generell unterstellen, dass es legitim sei, Abgeordnete aus bestehenden knappen Mehrheiten herauszukaufen. Daraus könnte sich sehr schnell eine Art Berlusconi-Kultur entwickeln, zumal sich in allen Parteien Christen befinden, denen sich von den Grundüberzeugungen her eine Nähe zur CDU unterstellen lässt. Ich bin überzeugt, dass das kein Zufall ist. Die demokratische Normalität sollte sein, wie es derzeit die neuesten Umfragen in Thüringen belegen: Nämlich, dass keine noch so entschlossene Regierung so links sein kann, dass es die Wähler begeistert. So ein Patt zwischen grünen/sozialdemokratischen/linken Wählern und dem christlichen Zentrum ist eine große Blamage und Ausdruck gewollter Unmöglichkeiten. Es ist noch genügend Zeit bis zu den nächsten Wahlen, darüber nachzudenken.

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