Der Ton der Medienberichte über die so genannten EU-Krisenländer ist deutlich schärfer geworden. Besonders an Griechenland lässt man kein gutes Haar. Es ist, als hätte man unsere ewigen Urlaubsländer plötzlich ganz anders vor Augen. Wie alte Bekannte, deren Gewohnheiten man vorübergehend verdrängt hat, wegen einer Geburtstagsparty, oder der Goldenen Hochzeit. Im Grunde ist über diese Länder alles gespeichert und bekannt: Statistiken, Machenschaften, Sparverhalten, Geschäftsgebaren.
Im ausgehenden 18. Jahrhundert, als unsere Dichter und Denker noch die Griechenland- Sehnsucht verspürten, und davon schwärmten, das man dort sogar mit den Hirten Griechisch sprechen könne, war die Verwechselung von Antike und Gegenwart trotz allem nicht weiter schlimm.
Da es den Euro noch nicht gab, und noch nicht einmal die EU, sondern bloß das Osmanische Reich, das gelegentlich die Hand aufhielt, um für Ruinen-Visiten abzukassieren, konnte man sich gerne reimgerecht mit den freiheitsliebenden Völkerschaften solidarisieren. Ansonsten hielt sich der Einfluss der Altphilologen auf die diversen Despotien in den Grenzen des allgemein Üblichen. Wir können jetzt hinzufügen: Dieses gilt auch für die Demokratien.
Was aber ist wirklich geschehen? Jenseits des inflationären Geredes über Europa und seine Einheit kam es, dank der Möglichkeiten, die sich aus dem Ende des Kalten Kriegs ergaben, zu einer unerwarteten Beschleunigung bei der Umsetzung der wahrscheinlich längst verkitschten Europa- Idee. Verstärkt wurde der Vorgang noch dadurch, dass die Kerneuropäer die Gelegenheit sahen, den Amerikanern in größerem Umfang Konkurrenz machen zu können. Sozusagen, staatstragende Konkurrenz.
Konkurrenten sind aber oft nur Kopiertalente. Selbst der Euro wurde nach dem Modell der US- Währung zusammengeschustert, von Sparkassendirektoren und Gelegenheitsministern, er ist, entgegen aller Prophezeiungen, zu einem ziemlich erfolgreichen Projekt geworden, aber auch wenig verlässlich und zunehmend sorgenstiftend, gründet sein Bestand doch mehr auf Psychologie als auf dem Soll und Haben der Realwirtschaft. Zumindest für einige der Beteiligten.
Wir unterscheiden seit geraumer Zeit schon zwischen Finanzwirtschaft und Realwirtschaft. Genau genommen, seit die Börse in den 90ern zur Spielwiese erklärt wurde. Die Realwirtschaft entspricht der tatsächlichen Wertschöpfung, zumindest sollte es so sein, während die Finanzwirtschaft das Spekulative verwaltet. Sie ist das Roulette des Systems.
Europa aber ist weiterhin der Kontinent der ungleichen Brüder. Man rechnet sich gerne gegenseitig was vor. Tatsache ist, dass einige der zur EU gehörenden Länder die Kriterien der Mitgliedschaft nicht erfüllen, und auch nie erfüllt haben. Für die Mitgliedschaft gibt es zwar klare Vorgaben, sie werden aber nicht angewandt. Es gibt wahrscheinlich kein einziges Land in der EU, das nicht in irgendeiner Form Sonderkonditionen hätte.
Für die Problematik, wie sie heute in Erscheinung tritt, gibt es wohl kaum eine Lösung, weder für Griechenland noch für Spanien, wenn die Kostenlücke zwischen Leistung und Anspruch nicht auf Dauer geschlossen werden kann. Wie aber soll man in einem Land wie Spanien einsehen, dass es um ein strukturelles Problem geht, wenn das Land in einer ersten Phase nach dem Beitritt gerade vom Gefälle zur EU leben konnte. Der Fall Spanien zeigt, dass der Boom nicht automatisch zu einer Neuordnung der Ökonomie führt, sondern vor allem spekulatives Geld verbraucht und verbrennt.
Das Missverständnis aber beruht durchaus auf Gegenseitigkeit. Dass europäische Immobilienfonds ihre Geschäftsgrundlage mit Wohnungen in Spanien sichern wollten, ist doch ein schlecht vorgetragener Branchen-Scherz, sollte man meinen.
Was Griechenland angeht, ist alles noch schwieriger. Das Land hat eine von Grund auf deformierte Gesellschaftsstruktur. Es ist nicht allein die Korruption, und es sind auch nicht nur die Machenschaften der Oberschicht, die das Ganze zu verantworten haben. Der Stillstand wird vielmehr hervorgerufen durch die Reduktion der gesamten Debatte auf einen ethisch gleichgültigen Schlagabtausch zwischen einer staatsunwilligen Bevölkerung, die nicht im entferntesten daran denkt ihre Steuern zu bezahlen, und der vormundschaftlichen Oberschicht, die diese Bevölkerung als nicht reif für eine moderne Gesellschaft betrachtet. Bleibt die Frage: Wer bestreikt hier wen?
Spanien und Griechenland sind europäische Randstaaten, beide waren einmal Imperien. Das ist, wie in den meisten Fällen, lange her. Aber auch das Gedächtnis kann die Gegenwart blockieren, mit Konquistadoren und Philosophen.
Trotzdem: Europa wird nur als Ganzes bestehen können, damit es aber als Ganzes bestehen kann, werden, wie in jedem funktionierenden Mischkonzern, gelegentliche Transfers nötig. Es muss ja nicht immer Bargeld sein. Manchmal genügt ein Gutschein. Bleibt zu bedenken, dass Transfers nur moralisch begründet werden können.