Rainer Grell / 20.03.2018 / 18:08 / Foto: Pixabay / 6 / Seite ausdrucken

„Geben Sie Gedankenfreiheit“

Einer der erschütterndsten Sätze der Weltliteratur ist für mich die Bitte des Marquis von Posa an König Philipp II. von Spanien in Schillers Don Carlos: „Geben Sie Gedankenfreiheit.“ Die beiden Sätze davor lauten: „Gehen Sie Europens Königen voran. Ein Federzug von dieser Hand, und neu erschaffen wird die Erde.“ Was für eine Welt war das, in der eine solche Bitte entstehen konnte? Hieß es doch schon in den Digesten (XLVIII, 19,18) des Corpus Juris Civilis des (ost)römischen Kaisers Justinian (482 bis 565): „Für seine Gedanken wird niemand bestraft“ („Cogitationis poenam nemo patitur“).

Offenbar war der Druck, den die absoluten Herrscher in Europa auf ihre Untertanen ausübten, so stark, dass diese sich selbst in ihren Gedanken nicht frei fühlten. Sofort fällt einem die Orwellsche „Gedankenpolizei“ aus „1984“ ein, die „Gedankenverbrechen“ verfolgte. Ob Orwell dabei an die japanische Gedankenpolizei gedacht hat, die ab 1911 die Aufgabe hatte, „gefährliche Gedanken“ zu bekämpfen, weiß ich nicht. Das hätte für Goethe ein Problem werden können, der einmal bekannt haben soll: „Es gibt kein Verbrechen, das ich nicht im Geiste schon begangen habe.“

Mein Lieblingslied als Pfadfinder, also mit 15/16 Jahren, war „Die Gedanken sind frei“, das um 1790 entstanden ist (Schiller schrieb seinen „Don Carlos“ von 1783 bis 1787):

Die Gedanken sind frei,
wer kann sie erraten?
Sie fliegen vorbei
wie nächtliche Schatten.
Kein Mensch kann sie wissen,
kein Jäger erschießen
mit Pulver und Blei.
Die Gedanken sind frei!

Ich denke, was ich will
und was mich beglücket,
doch alles in der Still',
und wie es sich schicket.
Mein Wunsch und Begehren
kann niemand verwehren,
es bleibet dabei:
Die Gedanken sind frei!

Und sperrt man mich ein
im finsteren Kerker,
ich spotte der Pein
und menschlicher Werke;
denn meine Gedanken
zerreißen die Schranken
und Mauern entzwei:
Die Gedanken sind frei!

Drum will ich auf immer
den Sorgen entsagen,
und will mich auch nimmer
mit Grillen mehr plagen.
Man kann ja im Herzen
stets lachen und scherzen
und denken dabei:
Die Gedanken sind frei!

Nachdem der Vater Sophie Scholls Anfang August 1942 wegen hitlerkritischer Äußerungen verhaftet worden war, stellte sich seine Tochter abends an die Gefängnismauer und spielte ihm auf der Flöte die Melodie dieses Volksliedes vor. Und auch nach der berühmten Rede des Berliner Bürgermeisters Ernst Reuter an die „Völker der Welt“ am 9. September 1948 erklang aus der Menge spontan „Die Gedanken sind frei“. 

In der Zeit des Absolutismus wurde der einfache Untertan allerdings mehr von Hunger und Not als von geistiger Unfreiheit gequält, bis der Druck so stark wurde, dass er sich in der Französischen Revolution entlud und die absolute Monarchie in Frankreich hinwegfegte.

Heinrich Heine, der sich ja bekanntlich ins französische Exil nach Paris flüchtete, um der allgegenwärtigen preußischen Zensur zu entgehen, konnte in „Deutschland. Ein Wintermärchen“ über die Kontrollen der „preußischen Douaniers“ spotten:

"Ihr Toren, die ihr im Koffer sucht! 
Hier werdet ihr nichts entdecken!
Die Konterbande, die mit mir reist, 
Die hab ich im Kopfe stecken"

Vom Rütteln und Stoßen der Postkutsche ermüdet, schläft der Dichter auf der Heimfahrt nach Deutschland schließlich ein und träumt von einer Begegnung mit Kaiser Barbarossa im sagenumwobenen Kyffhäuser, bei der Heine dem „Rotbart“ unter anderem den Ablauf des Guillotinierens erklärt, um am Ende zusammenzufassen:

„Ich habe mich mit dem Kaiser gezankt
Im Traum, im Traum versteht sich, –
Im wachen Zustand sprechen wir nicht
Mit Fürsten so widersetzig.
Nur träumend, im idealen Traum,
Wagt ihnen der Deutsche zu sagen
Die deutsche Meinung, die er so tief
Im treuen Herzen getragen.“

Heute erscheint uns das alles weit weg. Es geht nicht mehr um Gedanken-, sondern um Meinungsfreiheit, wie sie in Artikel 5 unseres Grundgesetzes und Artikel 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 garantiert ist (freedom of opinion und freedom of speech).

Doch während wir darum kämpfen, dass diese Freiheit nicht von den islamischen Staaten und ihren willfährigen Handlangern eingeschränkt wird (bei uns in Deutschland und Europa wohlgemerkt), die unter dem Vorwand der Religionsfreiheit unermüdlich darauf hinwirken, Kritik am Islam als Straftatbestand zu etablieren, vollzieht sich, von vielen unbemerkt, eine Entwicklung, deren Effizienz der Orwellschen Gedankenpolizei sehr nahe kommt, ja diese letztlich übertrifft.

Zwar jammern wir lauthals über die unerhörte Ausspähung unserer Privatsphäre durch die NSA (die National Security Agency), den Auslandsgeheimdienst der USA (entspricht formal unserem Bundesnachrichtendienst – BND), und fordern knallharte Sanktionen gegen die Amis, geben aber täglich freiwillig und nicht selten ungefragt unsere intimsten Gedanken und Informationen preis.

Wir brauchen keine Gedankenpolizei und keinen Überwachungsstaat, wir haben das Internet und die „sozialen Netzwerke“ (was für ein verlogener Begriff) und für alles und jedes eine „App“. Und immer mehr tragen ihr Smartphone wie eine Monstranz vor sich her. Darin findet sich im Laufe der Zeit alles, was den Bürger, den Kunden, den Autofahrer, den Fernsehzuschauer ausmacht. Alles, sogar das, von dem er gar nichts weiß, ja nicht einmal ahnt. Orwells Roman endet mit dem Satz „Er (die Hauptfigur Winston Smith) liebte den Großen Bruder.“

Ach ja, da fällt mir noch ein, im Zusammenhang mit „Freiheit“ wird unweigerlich immer Rozalia Luksenburg, aus der irgendwann Rosa Luxemburg wurde, ausgerechnet eine Kommunistin, mit dem mittlerweile sprichwörtlich gewordenen Satz zitiert: „Freiheit ist immer Freiheit des Andersdenkenden“. Und voll Ergriffenheit legen jedes Jahr am 15. Januar (dem Tag ihrer Ermordung 1919) linke Politiker an der Gedenkstätte für Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht in Berlin prachtvolle Kränze nieder.

Dabei dürfte den wenigsten bewusst sein, dass der Luxemburg-Satz auf den Schutz der eigenen Meinung bzw. der Meinung ihrer Parteifreunde abzielte, die im Gegensatz zur Mehrheitsmeinung der Bolschewiken im revolutionären Russland stand, und keineswegs die Freiheit auch der „Klassenfeinde“ im Sinne hatte.

Den Linken unserer Tage, und das sind ja leider nicht nur die Lafontaines und Wagenknechts, widme ich diese Sentenz von Karl Kraus: „Die Gedankenfreiheit haben wir. Jetzt brauchen wir nur noch die Gedanken.“

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Leserpost

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Martin Krüger / 20.03.2018

„Es gibt kein Verbrechen, das ich nicht im Geiste schon begangen habe.“  Diesen Satz hat Goethe nie gesagt. Er wurde ihm nur von Thomas Mann im Doktor Faustus in den Mund gelegt.

Karla Kuhn / 20.03.2018

Im gesamten Ostblock war bis zum Fall der Mauer, der ja nicht nur die DDR befreite, sondern das ganze Unterdrückung-Lügengebäude des Ostblocks einstürzen ließ, eine einzige Meinungsfreiheit- Unterdrückungsmaschinerie zugange. Allerdings haben die meisten Menschen gelernt damit umzugehen und haben sich ihre Meinungsfreiheit nicht nehmen lassen. Im engsten Freundeskreis konnte man ungehemmt vom Leder ziehen, sobald eine fremde Person dazukam, wurde die Unterhaltung banal. Den Satz, Achtung, Feind hört mit, hatten man verinnerlicht. Ich kann auch bis heute nicht verstehen, warum Merkel gewählt wurde. Dieser linientreuen Person habe ich bis heute, nicht eine Sekunde vertraut. Auch der Satz von Margot Honecker bei dem Interview in Chile, “Ihr werdet Euch alle noch umgucken” bekommt in dieser Zeit eine völlig neue Bedeutung.  Da hilft nur eins, erst gründlich recherchieren und nachdenken und erst dann wählen.

Mark Schild / 20.03.2018

„Die Gedanken sind frei“ ist ein zeitloses Lied. Obwohl ich 30 Jahre nach dem Autor geboren bin, war dieses Lied das einzige, dass ich voller Leidenschaft im Musik-Unterricht mitgesungen habe. Der Grundsatz “Audiatur et altera pars” (Man höre auch die andere Seite) ist den Linken unserer Tage ein Dorn im Auge oder vollkommen unbekannt.

Jürgen Müller / 20.03.2018

Warum in Hinsicht der Gedankenfreiheit der “gelernte” DDR-Bürger etwas sensibler ist, hatte Günter Kunert 2005 schon so beschrieben: “Was für eine naive Forderung Schillers durch den Mund seiner Figur Marquis Posa! Als ob Machthaber jemals aus freien Stücken erlaubt hätten, daß ihre Untertanen sich selbständig Gedanken über die Notwendigkeit von Unterdrückung und Untertanentum machen dürften. […] [...] Der in Deutschland spukende Geist war stets der Untertanengeist. Schillers Glaube an die Verbesserung des Menschengeschlechts war ein schöner Traum; der deutsche Bürger war kein Citoyen. Selbst die Klassiker blieben nicht von Tyrannei und Zensur verschont. Jede autoritäre Herrschaft in Deutschland bediente sich der kanonischen Texte nach Belieben und zog propagandistisch Nützliches aus den Werken der wehrlosen Erblasser. Was nicht in den Kram des jeweiligen Systems paßte, wurde eliminiert. […] Jedermann, so er gewillt war, erkannte die feudale Struktur eines unzeitgemäßen Systems. In zahllosen Reden hatte die SED von ihren Schriftstellern “Leidenschaft” gefordert und ihre Bereitschaft zur Diskussion, zum “Streitgespräch” bekundet, doch wehe dem, der wirklichen Widerspruch gewagt hätte. […] Insofern ist uns, die wir ja die DDR aus genauer Anschauung kannten, Schiller näher als einem Altbundesbürger, den Probleme der literarischen oder politischen Freiheit wenig kümmerten. “Bei uns”, muß ich sagen, lagen die Analogien auf der Hand. […] Wir kennen die Zukunft nicht, aber wir kennen unsere Vergangenheit, und das gibt zu genügend Befürchtungen Anlaß.”

Frank Holdergrün / 20.03.2018

Es stimmt, die Linken verrichten als Arbeit an der Gesellschaft lediglich die Erinnerung an ihren Stammvater Marx durch gemeinsame Gebete, betreutes Denken sozusagen. Echtes Denken tut weh und kein Linker hat sich jemals an harter Arbeit gestoßen. “Alles, was Sozialisten vom Geld verstehen, ist die Tatsache, dass sie es von anderen haben wollen.” (Adenauer). Und auch heute gilt links immer noch (unbewusst) das: “Gedanken sind mächtiger als Waffen. Wir erlauben es unseren Bürgern nicht, Waffen zu führen. Warum sollen wir es ihnen erlauben, selbstständig zu denken?” (Stalin) Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz speist sich ebenso daraus wie alle einfachen Denkschemata sozialdemokratischer Paradieserwartungen: “Sozialist sein, heißt arbeiten für eine Gesellschaftsordnung, in der alle aktiven Kräfte harmonisch verbunden werden und zu aller Nutzen zusammenwirken sollen.” (Bebel) Noch ehrlicher hat dies einer der einfältigsten sozialistischen Denker der Neuzeit ausgesprochen: “Ich sehe das Christentum als spezifischen Ausdruck der Hoffnungen und Träume der Menschheit.” (Rudi Dutschke) Getoppt wird das Ganze heute von einem alternden Grünsozialisten, der sich am See Genezareth die Worte Jesu für die Jetztzeit herbei phantasiert,  das neue Buch von Franz Alt heißt: “Der Appell von Jesus an die Welt: Liebe und Frieden sind möglich”.

Frank Stricker / 20.03.2018

Lieber Herr Grell, Karl Kraus hatte auch noch eine Sentenz verfasst, die vielleicht sogar noch besser zu den heutigen Linken paßt : “Nur in einem Land ,  wo die geistige Sonne tiefsteht , werfen Zwerge (Linke ! ) große Schatten….....

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