Man stelle sich das folgende Szenario vor. In einem Großkonzern irgendwo auf der Welt scheitert der betagte Mann an der Spitze – hoch in den Siebzigern – bei seinem Vorhaben, seinen Nachfolger im Amte des Vorstandschefs abzusetzen. Ihm stellen sich im Aufsichtsrat nicht nur die übrigen Anteilseigner sondern auch die ihre Macht ausspielende Belegschaft entgegen. Als Ergebnis des gescheiterten Putschs muss der Aufsichtsratschef zurücktreten, und unter dem Beifall seiner Widersacher tritt ein ehemaliger Gewerkschaftsführer interimistisch an seine Stelle.
Dieses Szenario spielte sich unlängst nicht in einem Entwicklungsland, sondern in Europa ab. Schauplatz war der nach Toyota zweitgrößte Automobilhersteller. Die von diesem Unternehmen gezeigte Seifenoper wird als eines der abschreckendsten Beispiele dafür, wie Corporate Governance nicht funktionieren sollte, in die Geschichtsbücher eingehen.
Sie haben es erraten, es geht um die Volkswagen AG, wo Arbeitnehmervertreter und der Staat in Form des Landes Niedersachsen ihre Muskeln spielen ließen. Interimistischer Aufsichtsratschef ist nun ein ehemaliger Vorsitzender der IG Metall.
Die deutsche Form der Corporate Governance ist ein internationaler Sonderfall. In großen Unternehmen ist die Hälfte der Sitze im Aufsichtsrat für Vertreter der Arbeitnehmer reserviert. Die Mitbestimmung wurde 1976 unter der sozialliberalen Koalition gesetzlich verankert und gilt seitdem als Teil des bundesrepublikanischen Konsenses. Dabei muss der Aufsichtsratsvorsitzende immerhin ein Vertreter der Anteilseigner sein; seine Stimme zählt im Falle eines Stimmengleichstands doppelt.
Hinzu kommt im Fall von Volkswagen allerdings die Besonderheit, dass Niedersachsen 20 Prozent der Stammaktien hält. Mehrheitsaktionär mit 50,7 Prozent der Aktien ist aber die Porsche Automobil Holding SE (nicht zu verwechseln mit dem Sportwagenhersteller Porsche AG). Porsche SE wird von zwei Familienclans kontrolliert, den Familien Porsche und Piëch. Letztere hat in den vergangenen Wochen für die Negativschlagzeilen gesorgt.
Der Patriarch Ferdinand K. Piëch ist einer der erfolgreichsten Unternehmenslenker, den die Automobilbranche in Deutschland je gesehen hat. Als Enkel des legendären Erfinders Ferdinand Porsche startete er seine Karriere bei der VW-Tochtergesellschaft Audi. In den siebziger und achtziger Jahren war er treibende Kraft bei der Umwandlung von Audi von einem langweiligen Hersteller unauffälliger Autos zu einem Premium-Hersteller, der Premium-Marken wie BMW und Mercedes Paroli bieten konnte.
Als Piëch 1993 die Zügel bei Volkswagen in die Hand nahm, schrieb das Unternehmen rote Zahlen. Er bewirkte den Turnaround und setzte schließlich seinen Schützling Martin Winterkorn als seinen Nachfolger ein (nach einem kurzen Intermezzo mit dem früheren BMW-Vorstand Bernd Pischetsrieder als Vorstandsvorsitzenden). Von 2002 bis letzte Woche saß Piëch dem Aufsichtsrat von Volkswagen vor. Angesichts eines Gewinns von mehr als 12 Milliarden Euro in 2014 sollte man meinen, der Aufsichtsratsvorsitzende habe Grund zur Zufriedenheit gehabt.
Piëch hätte sich über die vielen Erfolge in seinem Leben freuen und seinen Abschied aus dem Aufsichtsrat 2017 vorbereiten können. Stattdessen stürzte er VW in eine unerwartete Krise, als er Mitte des Monats gegenüber dem SPIEGEL äußerte, er sei “auf Distanz zu Winterkorn”.
Niemand wusste, warum Piëch sich urplötzlich von seinem CEO distanziert hatte, geschweige denn, warum er dies in der Öffentlichkeit tat. Zwar gibt es einige Baustellen im riesigen Volkswagen-Imperium, das unter einem Dach eine Vielzahl von Automarken vereint (VW, Audi, SEAT, Škoda, Bentley, Bugatti, Lamborghini, Porsche, Ducati, Volkswagen Nutzfahrzeuge, Scania und MAN). Die Margen von VW könnten in der Tat höher sein. Im wichtigen US-Markt kommt die Kernmarke nicht vom Fleck.
In einem Unternehmen mit mehr als 200 Milliarden Euro Umsatz und mehr als 600.000 Mitarbeitern wird es immer Segmente geben, die schwächeln. Insgesamt jedoch ergibt sich ein ansehnliches Bild. Volkswagen ist nicht nur enorm profitabel, sondern auch dabei, in den kommenden Jahren Toyota als weltgrößten Hersteller abzulösen.
Offensichtlich war das alles für Piëch nicht genug. Indem er Winterkorn öffentlich desavouierte, wollte er ihn schnell loswerden. Die Eignerstruktur von Volkswagen und das deutsche System der Mitbestimmung vereitelten seine Pläne.
Piëch musste seine isolierte Position erkennen, als das Aufsichtsratspräsidium ihm nicht folgen wollte. In diesem Spitzengremium des Aufsichtsrates schlossen sich die drei Arbeitnehmervertreter von Volkswagen, der niedersächsische Ministerpräsident sowie Piëchs Cousin Wolfgang Porsche zusammen, um den CEO Winterkorn zu unterstützen.
Nach diesem Rückschlag schien Piëch kurzzeitig von seinem Plan, den Vorstandsvorsitzenden hinaus zu drängen, abzulassen. Als er jedoch anschließend versuchte, seine Strategie der Destabilisierung fortzusetzen, musste er zurücktreten und das Unternehmen, das er einst gerettet hatte, verlassen.
Damit gibt die Volkswagen AG nun ein merkwürdiges Bild ab. Aktuell sitzt dem Aufsichtsrat Piëchs Stellvertreter Berthold Huber vor. Als früherer IG Metall-Vorsitzender liegt Hubers Interesse zuerst in der Erhaltung der Arbeitsplätze bei Volkswagen und erst in zweiter Linie in der Unternehmensrentabilität. Ein weiterer Gewinner des VW-Erdbebens ist Stephan Weil (SPD), Ministerpräsident von Niedersachsen. Auch er dringt darauf, die gutdotierten Jobs von Volkswagen im Lande zu halten. Martin Winterkorn bleibt Vorstandsvorsitzender, aber nun ist klar, dass er seinen Posten nur deswegen behält, weil Gewerkschafter und Politiker ihn als Garanten für den Erhalt von Arbeitsplätzen sehen.
In der Wirtschaftspresse wurden die Ereignisse der vergangenen Tage als Machtkampf zwischen Piëch und Winterkorn gesehen, den der Aufsichtsratsvorsitzende verlor.
In Wirklichkeit ging es um mehr.
Wie die vergangenen Wochen gezeigt haben, kann nichts gegen den Willen der Gewerkschafter und Politiker bei Volkswagen durchgesetzt werden. Zwar hält Niedersachsen nur gut 12 Prozent am Grundkapital von Volkswagen, aber die Mitbestimmung sorgt dafür, dass die privaten Eigner des Unternehmens am Ende machtlos sind.
Sie sind nicht stark genug, ihren Wunschkandidaten an die Vorstandsspitze zu setzen und wären auch nicht in der Lage, Stellen im Inland abzubauen, falls dies eines Tages erforderlich ist. Dies könnte erklären helfen, warum die Marge von Volkswagen so sehr hinter den anderen Margen im Volkswagen-Imperium zurückbleibt.
Handelte es sich um ein großes, von der Regierung und den Gewerkschaften kontrolliertes griechisches Unternehmen, wäre die Bundesregierung schnell mit Ratschlägen und Forderungen zur Hand, wie sich die Corporate Governance reformieren ließe. In einem deutschen Unternehmen aber, noch dazu einem so bedeutenden, ticken die Uhren anders.
Der Versuch Ferdinand Piëchs, den Vorstandsvorsitzenden der Volkswagen AG abzusägen, musste scheitern. Er hätte sich zuvor einer breiteren Unterstützung versichern müssen. Immerhin zeigt dieser Fall auf, dass es mit der Corporate Governance in Deutschland im Argen liegt. Die Verantwortung für das Schicksal eines Unternehmens muss letztendlich bei den Eignern des Unternehmens verbleiben, denn sie sind es, an denen ein mögliches Scheitern des Unternehmens schließlich hängenbleibt.
Am Beispiel von Volkswagen sehen wir, wie sich ein globaler Automobilhersteller zu einem de facto volkseigenen Unternehmen wandelt.
Wie es der Name schon sagt.
Dr. Oliver Marc Hartwich ist Executive Director der The New Zealand Initiative.
‘Germany’s corporate governance problem’ erschien zuerst in Business Spectator (Melbourne), 30. April 2015. Übersetzung aus dem Englischen von Eugene Seidel (Frankfurt am Main).