Oliver Marc Hartwich, Gastautor / 15.10.2012 / 03:59 / 0 / Seite ausdrucken

Deutschlands verständliche Inflationsparanoia

Für internationale Beobachter muss der aktuelle Titel von Der Spiegel recht eigenartig anmuten. „Vorsicht, Inflation!“ warnt Deutschlands führendes Nachrichtenmagazin seine Leser. Die Aussage wird durch das Bild eines schmelzenden Euro und den Untertitel unterstrichen, der „die schleichende Enteignung der Deutschen“ ankündigt.

Doch liegt Der Spiegel mit seinem Timing richtig? Der deutsche Verbraucherpreisindex verzeichnete im September letzten Jahres einen Anstieg gegenüber dem Vorjahr von 2,6 Prozent, im Februar 2,3 Prozent und diesen September 2,0 Prozent. Diese Zahlen klingen nicht nur keineswegs nach Hyperinflation, sondern zeigen sogar einen sich abschwächenden Preissteigerungstrend.

Die fixe Idee der Inflation ist deshalb in Deutschland so verbreitet, weil die Inflation ein nationales Trauma Deutschlands ist. Andere Länder melden auf den Titelseiten ihrer Zeitungen den Preisanstieg bei Wohnimmobilien, die Cricketergebnisse oder die Wettervorhersage. In Deutschland wird diese Rolle traditionell gerne vom Verbraucherpreisindex ausgefüllt - ganz gleich wo er steht oder in welche Richtung er sich bewegt. Dafür gibt es natürlich historische Gründe, aber es hat auch Konsequenzen für die Zukunft – nicht nur die Zukunft Deutschlands.

George Soros hat es einmal treffend auf den Punkt gebracht: „Aufgrund seiner Geschichte fürchtet Deutschland die Inflation mehr als die Rezession. Für den Rest der Welt ist es genau andersherum.“ Soros spielt damit darauf an, dass Deutschland zweimal in einem Jahrhundert die Erfahrung einer gewaltigen und rasanten Teuerung machen musste.

In der Weimarer Republik vernichtete die Hyperinflation von 1923 die Ersparnisse der Mittelschicht. Nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg und dem demütigenden Versailler Vertrag traf das ausgeblutete Land und seine demoralisierte Bevölkerung mit der Hyperinflation ein weiterer Schlag. Dies untergrub auch das Vertrauen in die Demokratie und war einer der zahlreichen Stufen für den Aufstieg Hitlers.

Hitlers Regime verfolgte später eine Wirtschafts- und Geldpolitik, die noch verantwortungsloser war als ihre Vorläufer. Die Wiederbewaffnung und der Zweite Weltkrieg wurden über die Druckerpresse finanziert, wenn auch in kreativerer Weise. Die von Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht erfundenen so genannten „Mefo-Wechsel“ stellten dem Hitler-Regime heimlich Zentralbankmittel zur Verfügung. Neben dem höchst erfinderischen Herrn Schacht wirkt die gegenwärtige Generation von Zentralbankaktivisten wie eine Amateurtruppe.

Nach dem Krieg machte der vollständige ökonomische, monetäre und fiskalische Zusammenbruch Deutschlands 1948 einen weiteren Währungsschnitt erforderlich. Nun kamen die Deutsche Mark und eine neue Zentralbank, die Bundesbank, mit umfassender Autonomie und dem alleinigen Auftrag, die Preise stabil zu halten. Auf diese Weise sollte mit der schurkischen monetären Vergangenheit Deutschlands gebrochen werden.

Was jedoch bis zum heutigen Tage bei den Deutschen hängen blieb – selbst bei denen, die für eine Erinnerung an 1948, geschweige denn 1923, viel zu jung sind – ist die Furcht, ihre Ersparnisse zu verlieren. Bei Gesamtspareinlagen im Wert von etwa 5 Billionen Euro sind solche Befürchtungen ohne Weiteres nachvollziehbar.

Es ist jedoch nicht nur der mögliche Wohlstandsverlust, der für Deutsche eine Rolle spielt. Die Geldwertstabilität ist nicht vorrangig eine technische Überlegung oder ein wirtschaftliches Ziel. Sie ist ein existenzielles Interesse.

Allermindestens betrachten Deutsche stabile Preise als Voraussetzung für Demokratie und Frieden. Sie halten den Spruch Lenins für richtig: „Der sicherste Weg zum Umsturz einer bestehenden Gesellschaftsordnung ist die Zerstörung ihrer Währung.“

Hatte nicht monetärer Aktivismus zwei Weltkriege möglich gemacht? Hatten seine Auswirkungen nicht eine ganze Generation radikalisiert? Besteht nicht eine direkte Verbindungslinie zwischen den Druckerpressen der Reichsbank und den Gaskammern der Konzentrationslager? In Deutschland sind dies weniger Fragen als Dogmen.

Man kann die Geldwertstabilität auch positiver betrachten und auch dies ist tief in der deutschen Geschichte verwurzelt. Die Deutschen hatten 1945 alles verloren, nicht nur den Krieg. Nach dem Holocaust war nichts mehr übrig geblieben, was Ähnlichkeit mit einem nationalen Selbstbewusstsein gehabt hätte, von Nationalstolz ganz zu schweigen. Deutsch zu sein, war eine absolute Peinlichkeit. Und was konnte „deutsch“ schon bedeuten in einem Land, das durch den Kalten Krieg geteilt wurde und durch den Eisernen Vorhang und die Berliner Mauer zerrissen war?

Es gab jedoch wenigstens eines, auf das die (West-)Deutschen ab Mitte der 1950er Jahre stolz sein konnten: ihre Wirtschaftsleistung und die neu gewonnene Stabilität ihrer Währung.

Im Laufe der Jahre füllte die Deutsche Mark die Lücke, die nach dem Verschwinden jeder irgendwie gearteter Verbindung mit der deutschen Nation entstanden war. Es gab vielleicht nicht viel, auf das man stolz sein konnte – außer der Deutschen Mark. Jacques Delors, früherer Präsident der Europäischen Kommission, meinte: „Nicht alle Deutschen glauben an Gott, aber alle glauben an die Bundesbank“.

Bei der Einführung des Euro war es Deutschland, das auf Maßnahmen bestand, mit denen die neue Währung mindestens so stabil gehalten werden sollte wie die Deutsche Mark. Das war nicht nur Eigeninteresse, sondern das Ergebnis einer tiefen Überzeugung. Für die Deutschen waren und sind Geldwertstabilität, eine niedrige Inflation und eine unabhängige Zentralbank der Weg zum Wohlstand. Sie halten dies auch für die beste Methode, eine funktionierende Demokratie zu garantieren.

Die derzeit getroffenen Maßnahmen zur „Rettung“ des Euro stehen in krassem Gegensatz zu diesen Überzeugungen. Sie stellen alles in Frage, was den Deutschen im Laufe ihrer Nachkriegsgeschichte selbstverständlich geworden war.

Aus diesem Grund kann Der Spiegel nun eine Titelgeschichte über Inflation bringen, obwohl die amtlichen Zahlen des Verbraucherpreisindex sich nach wie vor im normalen Bereich bewegen. Es erklärt auch, warum die Deutschen nach einer kürzlich veröffentlichten Meinungsumfrage nichts so sehr fürchten wie die Inflation. Fast zwei Drittel erklärten, steigende Verbraucherpreise seien ihre größte Sorge.

Solche Bedenken könnten leicht durch den Hinweis verharmlost werden, dass die Eurozone eher ein Abrutschen in die Deflation riskiert oder dass eine Inflationsorientierung im Stil der Bundesbank nicht mehr modern ist. Das wäre jedoch aus mindestens zwei Gründen unklug.

Erstens musste Deutschland mit bestimmten historischen Lektionen über die Auswirkungen einer expansionistischen Geldpolitik eigene schmerzliche Erfahrungen machen. Sie werden das Resultat heutiger Geldpolitik vielleicht nicht vorherbestimmen, aber sie sollten auch nicht vergessen oder abgetan werden.

Zweitens kommt Deutschland eine zentrale Rolle bei der weiteren Entwicklung der Eurokrise zu. Jede Politik, die Deutschlands politische Präferenzen nicht berücksichtigt, ist zum Scheitern verurteilt oder wird zumindest auf heftigen Widerstand stoßen.

In einer Welt, die durch „quantitative Lockerung“ und unorthodox agierende Zentralbanken bestimmt wird, mag Deutschlands Fokus auf Währungsstabilität anachronistisch erscheinen. Angesichts der deutschen Geschichte ist dieser jedoch für das Land vollkommen nachvollziehbar und sollte allen anderen eine Lehre sein.

Dr. Oliver Marc Hartwich ist Executive Director der The New Zealand Initiative.

‘Germany’s understandable inflation paranoia’ erschien zuerst in Business Spectator (Melbourne), 11. Oktober 2012. Aus dem Englischen von Cornelia Kähler (Fachübersetzungen - Wirtschaft, Recht, Finanzen).

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