Roger Letsch / 10.02.2024 / 09:35 / Foto: Kremlin.ru / 128 / Seite ausdrucken

Das Putin-Interview

War das Interview, das Tucker Carlson mit Putin führte, jetzt wirklich so schlimm? Und hat es zu Erkenntnisgewinn geführt? Wenn, dann doch eher indirekt.

Hat Putin irgendetwas vorgebracht in seinen langen Girlanden aus historischen Lektionen und gespielter Verblüffung über den in toto pöhsen Westen, das dazu führte, dass die ukrainischen Flaggen in X-Profilen gegen russische ausgetauscht wurden? Wirklich zufrieden ist natürlich niemand mit dem Zweistundenstück, das da auf der Kremlbühne gegeben wurde. Am wenigsten jene Maximalisten, für die das einzig legitime Gespräch mit Putin vor einem Richter in Den Haag stattzufinden hat. Und weil Tucker Carlson Putin weder die Zunge noch das Herz herausriss, hat er natürlich verschissen.

Putin „zu stellen“, das sei der wahre Journalismus! Ausgeübt von tapferen, gesinnungsfesten Drachentötern, die das Drachentöten in ihren warmen Redaktionsbüros oder vor dem Badezimmerspiegel üben. Putin ausreden lassen, ihn nicht zu unterbrechen, seine Propaganda in den Skat zu drücken und sich stattdessen auf die winzigen Details zu konzentrieren, die aufschlussreich sein können… sowas geht natürlich gar nicht! Aber schlechten Argumenten begegnet man immer noch am besten dadurch, dass man ihre Darlegung nicht stört. Nach dem Interview ist Zeit für die Analyse, nicht vorher.

Beginnen wir also bei Tucker Carlson selbst, der bereits in der Anmoderation die ihn verstörende Quintessenz des Interviews vorwegnahm. Putin ist der Meinung, dass die Ostukraine Russland gehört. Wenn nicht noch mehr. Basta! Das war’s! Это всё! Das war das Ergebnis seiner halbstündigen Geschichtsvorlesung, die sich bis ins 8. Jahrhundert zurück ausdehnte. What else is new? Zu solcher Hochseilakrobatik greift man nicht, wenn man zur Untermauerung von Ansprüchen in der Zeitgeschichte hinreichend fündig wird. Oder, um mal ein Filmzitat zu bemühen: „Wir haben auch alle mal im Paradies gelebt. Das bedeutet nicht, dass wir da je wieder hin können!“ („The Tudors“, eine Episode aus der letzten Staffel, Charles Brandon erklärt einer Französin aus Boulogne, dass die Stadt mal den Engländern gehörte und deshalb erobert werden müsse.)

Und auch wenn ich es mir jetzt noch mit den letzten Putinfans verscherze, ein wenig erinnerten mich Putins Ausflüge in die Vergangenheit an Mahmud Abbas, inklusive stolz präsentierter „historischer Dokumente“ wie diesem Exemplar der „Palestine Post“ aus dem Jahr 1935, welche jedoch eine zionistische Tageszeitung aus Jerusalem war und keineswegs der Beweis für die vormalige Existenz eines palästinensischen Staates …aber ich schweife ab. Wozu also die bemüht und detailversessen vorgetragenen Erbansprüche, die aus noch dazu verdreht dargestellten Hilferufen längst verblichener Viertelfürsten resultieren sollen, wenn doch angeblich alles so offensichtlich ist? Auch führt die Abwägung, welcher Teil der Ukraine warum wohin gehört, zu nichts.

Point Zero

Putin bemerkte leider die Ironie nicht, als Tucker Carlson fragte, ob er schon mit dem Präsidenten Ungarns darüber gesprochen habe, auf welchen Teil der Ukraine Ungarn Anspruch habe. Nein, das habe er nicht, sagt Putin mit vollem Ernst. Er spricht lieber von Russland in den Grenzen von 1654, da kann Tucker als jemand, dessen Heimatland erst 1776 gegründet wurde, schon mal albern werden. Aber ich will das hier gar nicht vertiefen, beim Grenzen ziehen den „Point Zero“ zu finden, den unverrückbaren Status quo, den alle akzeptieren müssen, ist ein Ding der Unmöglichkeit und buchstäblich die Mutter aller Kriege. Mein Onkel könnte sich natürlich freuen. Gälten die Grenzen von 1654, könnte er wieder nach Königsberg zurück. Der kam flach, ich weiß. Aber den konnte ich mir jetzt nicht verkneifen.

Wirklich interessant an der Geschichtsstunde ist Putins Taktik, die er auch im weiteren Interview gekonnt benutze: Die wenigen wirklich schrägen bis verdrehenden Behauptungen unter einem Berg kleiner und doch irrelevanter Wahrheiten zu verschütten. Diese Form der Überwältigung mit Fakten, unter die ein wohl abgemessenes Quantum „freie Interpretation“ gemischt ist, funktioniert live ganz hervorragend und wird von allen Ideologen und „Hütern der einzigen Wahrheit“ – vom KGB-Offizier über den SED-Kader im Kampf gegen den Klassenfeind bis zum Klimakleber – medial eingesetzt.

Das nächste Detail betrifft die Frage von Macht und Verantwortung. Immer wenn eine Frage ins Kritische abbiegt oder direkt als Forderung auf seinem Schreibtisch landet, verweist Putin auf Strukturen außerhalb seines Zugriffs, die in Wirklichkeit nur Subalterne sind. Er habe dieses nicht zu entscheiden… für jenes wäre der und der verantwortlich… dazu müsse man den und den fragen…. Das ist Geheimdiensttaktik wie aus dem Lehrbuch. Macht ausüben ist nämlich besonders effektiv, wenn man mit formalen Ausflüchten, Strohmännern und Erklärungen, wie die Dinge wirklich lägen, glaubhaft machen kann, man hätte die Macht nicht. Diktaturen arbeiten so. Die Mafia arbeitet so. Natürlich gibt es viele Nuancen, und auch sogenannte „Demokraten“ sind nicht frei davon.

Bereits 2018 im Interview mit Armin Wolf (zu welchem heute gern referenziert wird, um zu zeigen, wie „wirklicher Journalismus“ aussehe) wandte Putin diese Taktik an. Ein Beispiel: Auf Wolfs Frage damals, warum die Partei „Einiges Russland“ ausgerechnet zu EU-kritischen Parteien so enge Kontakte pflege, antwortete Putin, das sei eben Parteipolitik, er sei nun aber der Präsident und nicht Parteichef, und deshalb müsse Wolf dazu schon Medwedjew, den Parteichef fragen, der aber, wie schade, gerade nicht greifbar war.

Diese Taktik unterscheidet Putin übrigens von fast allen westlichen Politikern, die gern mit mehr Entscheidungskompetenz prahlen, als tatsächlich in ihren Maßanzügen steckt. Keiner von denen käme auf die Idee, zu sagen „da muss ich erst mal meinen Souverän fragen“. Ihre Lügen bestehen aus Anmaßung von Macht. Putins Lüge besteht darin, Ohnmacht vorzutäuschen, indem er einen Minister oder „Volkes Wille“ vorschiebt. Wie bipolar unsere Welt doch ist!

…und ein Riss in der Fassade

Das dritte Detail trat besonders deutlich zutage, als Tucker seinen etwas naiven Plan offenbarte, den in Russland seit einem Jahr in Untersuchungshaft sitzenden amerikanischen Journalisten Evan Gershkovich freizubekommen. Er würde ihn gern gleich mitnehmen: „Give him to us and we bring him back in the United States“. Im Vorfeld war spekuliert worden, Carlson habe sicher nicht den Mut, den Fall aufs Tapet zu bringen, und da sind nun wohl einige Entschuldigungen fällig, was natürlich nie geschehen wird. Die Argumente gingen im Interview etwas hin und her, und Tucker war an dieser Stelle ein guter Anwalt der Humanität. Nichts anderes hätte auch funktionieren können. Kein Verweis auf einen Pressecodex, internationales Recht oder Zitate von „Reporter ohne Grenzen“ hätte Putin überrascht. Er hätte, wie oben beschrieben, einen Strohmann vorgeschoben, der (leider, leider) auf gründliche Untersuchung dieses gefährlichen Falls bestünde.

Aber Tucker hat hier einen Riss in die Fassade Putins gelächelt, und offenbar ist es keinem aufgefallen. Auf Tuckers entwaffnendes „he’s not a spy, he’s a kid!“ antwortete Putin: „He received classified informations and he did it covertly… By the end of the day it makes no sense to keep him in prison.“ 

Ja was denn nun? Gershkovich kann Staatsgeheimnisse abgreifen (und dafür die Gesetze des Landes zu spüren bekommen), und doch mache es keinen Sinn, dass er im Gefängnis sitzt? Oder stimmt der Vorwurf gegen Gershkovich nicht, und deshalb macht die Haft keinen Sinn? Beide Aussagen Putins widersprechen sich völlig! Hier hat er kurz seine eingeübte Rolle verlassen, die des Regierungschefs, der nicht allmächtig sei, dem durch Geschichte, Gesetze und Regeln die Hände gebunden sind. Er und er allein entscheidet, was Staatsgeheimnisse sind, wer warum verhaftet wird und wer frei kommt. Sowas passiert ihm nicht im Staatsfernsehen. Dafür braucht es schon die Anstrengungen eines über weite Strecken recht harmlos daherkommenden Interviews mit Tucker Carlson.

Erkenntnisgewinn?

Der Erkenntnisgewinn war zwar gering, aber einige psychologisch interessante Beobachtungen entschädigen für die verlorene Lebenszeit. Und einen Punkt muss ich sogar Putin geben, der auf Holz klopfte, um darzustellen, aus welchem Material die Köpfe deutscher Politiker sind. Ach, wenn sie doch nur auch die Nasen von Pinocchio hätten!

Das Interview wird den Krieg weder verlängern noch verkürzen, und ich bezweifle auch, dass Putins Beteuerung, er habe über die Ukraine hinaus keinerlei territoriale Interessen, bei seinen Nachbarn in Polen und im Baltikum großes Vertrauen auslöst. Ich für meinen Teil schließe auf sowas ohnehin keine Wetten ab.

Als nächstes will Carlson nun mit Selenskyi, dem Präsidenten der Ukraine, reden. Tucker als Pendeldiplomat zwischen Kiew und Moskau wäre vielleicht nicht die schlechteste Idee angesichts des aktiven Politikpersonals beiderseits des Atlantiks. Die Umgehung der politischen Kanäle durch Jared Kushner (weil die Diplomaten nicht mit Trump arbeiten wollten) hat letztlich zu den Abraham-Accords geführt. Vielleicht ist der Frieden zu wichtig, um ihn immer nur den Politikern zu überlassen. Versuch es, Tucker. Schlechter kann’s ja nicht werden.

 

Roger Letsch, Baujahr 1967, aufgewachsen in Sachsen-Anhalt, als dieses noch in der DDR lag und nicht so hieß. Lebt in der Nähe von und arbeitet in Hannover als Webdesigner, Fotograf und Texter. Sortiert seine Gedanken in der Öffentlichkeit auf seinem Blog unbesorgt.de.

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Leserpost

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Bernd Fendt / 10.02.2024

Wie TC schon zwei Tage vorher in seinem Ankündigungsvideo sagte ging es ihm darum seinen amerikanischen Landesleuten einen Blick auf die andere Seite der Medaille zu ermöglichen getreu der Devise “audiatur et altera pars”. Deshalb interessiert es ich mich mehr, wie das Interview von den US-Bürgern aufgenommen wurde. Bis auf den historischen Diskurs hat man als interessierter Achse-Leser nichts wesentlich neues erfahren.

Peter Neumeyer / 10.02.2024

Ilona Grimm, ja das ist der schwarze Kommentator Kanal oder Klub hier. Die Beleidigten, die sogar zu Recht beleidigten über die Unfähigkeit unsere Politiker, welche aber trotz aller ihrer Unfähigkeit, nicht mit solch senilem kleinen Mann verglichen werden sollten, der mittlerweile um mit imperialistischen Methoden sein Ego zu stärken fast eine Million Menschen auf dem Gewissen hat. Es ist eine Armut, wie bei diesen Kommentatoren vergleichbar mit dem Senil erscheinenden im Kreml die Realität ähnlich der Einsteischen Raumzeitkrümmung gebeugt wird.

F.Bothmann / 10.02.2024

Meine erster Gedanke nach dem Interview: Der Ukraine-Konflikt wird der teuerste von den erfolglosen Regime-Change-Aktivitäten der USA und ihrer Vasallen. Also noch teurer als der zuletzt in Afghanistan. - Da wurde ja auch unsere „Freiheit“ am Hindukusch verteidigt. Und nun halt im Osten von UA. Gell.

Xaver Huber / 10.02.2024

Sehr geehrte Frau Sybille Eden, fern Ihrer interpunktionellen Defizite, die im Jahr 2024 eine Art Standard zu bilden scheinen: Augenscheinlich beweisen Sie mit Ihrer Präsenz auf diesem Blog eine außergewöhnlichen Leidensfähigkeit. Mit vorzüglicher Hochachtung.

L. Bauer / 10.02.2024

@Tomas Wolter bei Thomas Röpers Anti-Spiegel gibt es eine Empfehlung für eine sehr gute deutsche Übersetzung!

Boris Büche / 10.02.2024

@Tomas Wolter: Ein Transskript auf Deutsch (offiziell vom Russischen Außenministerium auf Englisch, maschinell übersetzt) finden Sie auf den Nachdenkseiten.

L. Bauer / 10.02.2024

@Gabriele Klein Der Hunka und der Trudeau wussten ganz genau wer sie sind. Es gab ein Vorabtreffen, mit Bildern. Dazu müssen Sie wissen, Seine Vize, die so tolle Frau Freeland hat bis heute Einreiseverbot in Russland. Sie kommt aus einer der ukrainischen Familien, alle, ca. 8000 wackere Ukraine-Nazis bis 1955 eingebürgert im feinen Canada. Ihr Großvater, in Lemberg ordentlich für die Besatzer gearbeitet, musste dann eben weg. Sie spionierte Ende der 80ziger für den canadischen Geheimdienst als Studentin in Kiew. Spricht ja fließend ukrainisch. Die größten Familien von denen leben in Alberta. Es ist die größte ukrainische Diaspora außerhalb. Die haben schon ordentlich Einfluss im Land. Und sie wusste ganz genau wer da geladen war, hat das auch begleitet und ist natürlich Kontaktperson für die Community. Trudeau kennt sie lang genug, der wusste genau Bescheid. Dafür durfte dann halt der Parlamentssprecher gehen, war fürs Protokoll verantwortlich. Slava!

Silvia Orlandi / 10.02.2024

Ach ja, fangen wir bei Adam und Eva und ihren mißratenen Söhnen, Kain und Abel an….Stoppt den Krieg! Bevor „alles in Scherben fällt“! Geht alle nach Hause!

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