„Die CO2 Steuer muss geliebt werden". Vor Schreck wäre ich fast im Straßengraben gelandet. Das hat man davon, wenn man das Autoradio einschaltet. In aller Arglosigkeit, wollte ich doch nur mal eben hören, was die Verkehrslage zu bieten hat. Man sollte lieber in einem Stau landen, als den WDR einzuschalten.
Im Stehen lassen sich entspannt die „Nachrichten in einfacher Sprache“ hören, die der DLF anbietet, ein Service, der mir bisher nicht bekannt war, dessen Sinn mir aber sofort einleuchtete. Und mich fragen lässt, warum diese Art der Informationsverbindung nicht längst Standard ist. Wer weiß denn heute noch, was eine Legislaturperiode ist oder ein Emissionshandel und wo man diese Emissionen kaufen kann? Mit solchen Begriffen und Fragen wird man in der einfachen Sprache nicht behelligt („voll genervt, Alta!“)
Ich erinnere mich gut – vor der Buchhandlung, in der ich zu Studentenzeiten jobbte, stand jeden Morgen ein auffälliger Mann. Gekleidet wie aus dem Ei gepellt, alles vom feinsten, die gestärkten Hemden mit Manschettenknöpfen, die Hosen mit messerscharfen Bügelfalten, die Jackets in Glencheck, Hahnentritt, Vichy oder Nadelstreifen gemustert, die Budapester mit Fullbrogue-Lochverzierung blitzeblank gewienert, die Haare sorgfältig in Brillantine getaucht. Allerdings stand der feine Herr nicht frei herum, sondern immer an einen Stromkasten gelehnt, und die rechte Hand umklammerte eine Bierflasche. Es war ganz sicher nicht seine erste, denn wenn ich zum Dienstantritt kurz vor 9 erschien, war der Mann bereits vollkommen breit. Meist so breit, dass er nicht einmal mehr lallen konnte, aber der Gegensatz zwischen dem picobello Erscheinungsbild und der offensichtlich desolaten geistigen Verfassung war mir unerklärlich, und zu gerne hätte ich gewusst, welches menschliche Drama sich dahinter verbarg.
Es gab so einige Stellen – meist Straßenkreuzungen – in der Stadt, die regelmäßig von predigenden Eckenstehern okkupiert waren. Soweit ich mich erinnere, waren es ausschließlich Männer. Nur in Berlin gab es mal die „Fickoma“, eine ältere Dame, deren Themenkomplex relativ hermetisch war und die sogar nachhaltige Spuren in Form von Stickereien und Gedichten hinterlassen hat.
Ein „Was für ein Bekloppter!“-Blick
Lustig war ein Erlebnis in Paris, da stieg ein äußerlich an Jesus erinnernder Mensch in die Metro und begann lautstark und barfüßig zu predigen. Mir gegenüber saß ein deutlich adretter gekleideter kleiner Mann, der zunächst belustigt, dann zunehmend unwillig drein blickte und mir mehrfach einen „Was für ein Bekloppter!“-Blick zuwarf. Wer mochte ihm widersprechen. Doch schließlich wurde es ihm zu bunt, er sprang auf und begann nun seinerseits, lauthals aus seinem unverkennbar reichen Erfahrungsschatz an Wirrköpfigkeit zu schöpfen. Der Jesusdarsteller verstummte und stieg böse brabbelnd an der nächsten Station aus, während der Adrette sich weiter dran hielt und mehrfach mit einem Buch durch die ohnehin stickige Luft im Waggon fuchtelte. Die Pariser, Kummer gewöhnt, störten sich nicht weiter daran, was mir gut gefiel.
Als Kind fand ich Eckensteher hingegen faszinierend; als Berufsziel gefiel mir die Sache allerdings nicht, da wollte ich lieber Hausierer, Hühnerdieb oder Pirat werden. Einige Gestalten machten mir Angst, da sie nicht nur redeten, sondern auch gestikulierten, nicht selten sehr ausladend. Manche, so erinnere ich mich, gehörten zum festen Inventar der Stadt, andere sah man nur für kurze Zeit, dann waren sie wieder verschwunden, vermutlich hatte man sie in ein betreutes, weniger öffentliches Wohnen gebracht.
Ärzte machten sich in diesen Fällen gerne den Spaß, zwei Jesusse im selben Zimmer unterzubringen oder mehrere Apokalyptiker, die sich über den genauen Termin des Weltuntergangs nicht einigen mochten. Ob der Schweizer Adolf Wölfli (1860 – 1930) auch an Ecken predigte, ist mir nicht bekannt, dafür war er während seines jahrzehntelangen Aufenthalts in der Nervenheilanstalt Waldau künstlerisch höchst kreativ. Sein erhaltenes Werk umfasst abertausende Zeichnungen, Collagen und 25.000 zu Heften gebundenen Seiten mit Erzählungen, Gedichten und Musikkompositionen. Wölfli entwickelte ein hochkomplexes eigenes Weltbild, genannt „Skt.Adolf-Riesen-Schöpfung", das er in seinen Bildern und Texten „erklärte“. Wölfli war kein netter Mensch, er vergriff sich an Kindern, war unberechenbar und gewalttätig, aber sein künstlerisches, um 1899 in der Anstalt erwachtes Werk ist atemberaubend.
Ich lernte Wölfli während des Studiums kennen, da mein Professor, der Kunsthistoriker Hans Holländer, ein besonderes Faible für Art Brut besaß und dazu Vorlesungen und Seminare abhielt. Art Brut versucht, einen Sammelbegriff für autodidaktische Kunst von Laien, Kindern und Menschen mit psychischen Erkrankungen oder einer geistigen Behinderung zu schaffen. Wölfli, dessen fantastische Werke und deren Qualität von dem Psychiater Walter Morgenthaler 1921 in dem Buch „Ein Geisteskranker als Künstler“ beschrieben wurden, gehört zu den bekanntesten Vertretern dieser künstlerischen Ausdrucksform und wird auf einer Website zum Thema „der berühmteste Anstaltskünstler Europas“ genannt.
Bizarre Weltbilder gibt es auch heute noch
Ein weiterer Kenner und Förderer der Kunst psychisch Kranker war Hans Prinzhorn (1886 – 1933), der eine beeindruckende Sammlung von Werken hinterlassen hat, die man in Heidelberg besuchen kann. Darunter befinden sich selbstverständlich auch Werke Wölflis.
Bizarre Weltbilder gibt es auch heute noch; sie müssen – ich bin kein Psychiater – nicht zwangläufig als pathologisch angesehen werden, oft entstammen sie auch purer Dummheit, Selbstüberschätzung, reinem Kalkül oder Massendynamik. Das kann sich bildnerisch äußern („Wir malen Vulven“) in der Regel aber verbal. Wer CO2 sieht, muss sich zumindest fragen lassen, ob auch Dioxygen, Nitrogenium oder N-Acetyl-4-aminophenol; wer jemanden, der CO2 sieht, zur Leitfigur erhöht und ihr nach- oder vorausrennt, wer überall Nazis sieht und alle Afrikaner nach Europa holen will und das entgegen jeglicher Vernunft völlig selbstverständlich findet, der muss sich schon fragen lassen, ob das Oberstübchen vielleicht etwas derangiert ist. Wer libysche Migrantenlager mit KZ vergleicht, dürfte diese Frage recht eindeutig beantworten.
Ebenso muss man diejenigen infrage stellen, die solche „Botschaften“ befördern und verstärken, indem sie mit ihren medialen Mitteln den Wahnsinn noch befeuern. Wer früher an einer Straßenecke stand und appellierte, forderte oder verlangte, hatte so gut wie keine Chance, damit weiter als bis zur nächsten Kreuzung vorzudringen. Heute liest und hört man Interviews mit diesen Leuten, die Weltfremdes appellieren, fordern und verlangen, und man berichtet über jede noch so bizarre Äußerung und spendet Geld, damit ihre Gagschreiber anständig bezahlt werden... Lassen wir Adolf Wölfli das letzte Wort:
"G’ganggali ging g’gang, g’gung g’gung:
Giingara=Lina, Wiig ’R a sina.
G’ganggali ging g’gang, g’gung g’gung:
Rittara-Gritta, d’Zittara witta.
G’ganggali ging g’gang, g’gung, g’gung:
Giigaralina siig ’R a Fina.
Gganggali ging g’gang, g’gung g’gung:
Fung z’Jung, gung d’Stung. Chehr.
Ist 32 Schleg Marsch. Adolf Wölfli."
Man kann in unseren Zeitungen und Sendern Wirreres finden.
Website zu Adolf Wölfli:
Adolf Wölfli Film
Adolf Wölfli, Das Formenvokabular
Adolf Wölfli, eigene Lebensbeschreibung
Art Brut
Die Sammlung Prinzhorn (Dokumentation):
Die Sammlung Prinzhorn (Website)