Worum geht es bei der jüdischen Nostalgie für das ukrainisch/russische Schtetl wirklich? Was genau vermissen wir? Die ungepflasterten, schlammigen Straßen? Die eiskalten Winter? Die ganzjährig herrschende Armut?
„Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht? Wenn ihr uns kitzelt, lachen wir nicht?“, lässt Shakespeare im „Kaufmann von Venedig“ den jüdischen Geldverleiher Shylock sagen. In diesem Sinne: Ja, ich habe den Film „Fiddler on the Roof“ (basierend auf dem gleichnamigen Musical, im Deutschen bekannt als „Anatevka“, Anm. d. Red.) geliebt; ich habe ihn auch auf der Bühne in jiddischer Sprache geliebt. Und der neue Dokumentarfilm über die Entstehung des Musicals, „Fiddler's Journey to the Big Screen“, ist genauso herzlich, charmant, informativ und unterhaltsam wie der Film selbst. Sehen Sie sich den Streifen an – Er wird Ihnen gefallen. Er ist voll mit großartigen Hollywood-Anekdoten.
Raten Sie mal, wer Tevye spielen wollte? Kein anderer als Frank Sinatra! Raten Sie, wer bei dem Film mit Topol Regie führte? Norman Jewison – der uns lachend erzählt, dass er trotz seines Namens ein „Nichtjude“ ist! Aber der „Goi“ und sein Team versetzen uns auf magische Weise in das Schtetl zurück, nach dem wir uns immer noch zu sehnen scheinen, und sein Fiedler ist sogar noch eindringlicher als der von Chagall, denn Isaac Stern ist der Geiger aus dem Off.
Der Film wurde 1971 uraufgeführt und gewann drei Academy Awards. Regie (Jewison), Musik (Jerry Bock), Text (Sheldon Harnick), Produktion (Robert Boyle), künstlerische Leitung (Michael Stringer), Schnitt (Antony Gibbs und Robert Lawrence), Schauspiel und Gesang (Topol und andere), Kostüm (Joan Bridge und Elizabeth Haffenden), Set-Desig und Kameraführung (Oswald Morris) und Choreographie (Jerome Robbins) ließen keine Wünsche offen. Der Rezensent von The Hollywood Reporter schrieb, der Film gehöre „zu den besten Musicals, die je verfilmt wurden“. Pauline Kael in The New Yorker nannte es „das kraftvollste Filmmusical, das je gemacht wurde“.
Vergnügungspark durchs Schtetl
„Fiddler's Journey to the Big Screen“, produziert von Sasha Berman und unter der Regie von Daniel Raim, ist gefüllt mit pikanten Einblicken hinter die Kulissen und Clips von Harry Belafonte, Judy Garland, Alan Arkin, Robert Kennedy, Golda Meir und David Ben-Gurion sowie Interviews mit den Darstellern. Der Filmkritiker Kenny Turan befindet, dass dieses Musical „fast wie Brigadoon ist. Es existiert in und für sich selbst“.
Turan hat recht. „Anatevka“ ist so verträumt, wir haben das Dorf und seine Bewohner so lieb gewonnen. Und doch, wie Tevye selbst fragen könnte: Worum geht es bei dieser jüdischen Nostalgie für das „Alte Land“ oder speziell für das ukrainisch/russische Schtetl wirklich? Was genau vermissen wir? Die ungepflasterten, schlammigen Straßen? Die eiskalten Winter? Die ganzjährig herrschende Armut? Bereuen wir unseren eigenen Glaubensverlust, indem wir die Juden von Anatevka für ihre Treue zum religiösen Judentum ehren? Oder ist dies unsere Art, eine Verbindung zu den Großeltern herzustellen, die wir nie kennengelernt haben – die Vorfahren, deren Gesichter wir uns nicht einmal vorstellen können (wir haben keine Bilder, keine Fotos) und deren Namen wir vielleicht nicht einmal kennen?
Wie viele charmante und phantasievolle Romane wie Max Gross' neues Buch „The Lost Shtetl“ werden noch veröffentlicht werden? Gross stellt sich kunstvoll ein Schtetl vor, das seit 100 Jahren unverändert und versteckt im polnischen Wald liegt. Und als die modernen Polen es entdecken, gibt es nichts als Ärger. 2010 veröffentlichte Dara Horn eine Kurzgeschichte, „Shtetl World“, in der ein Schtetl der „Welt unserer Väter“ wie eine Ausstellung in einem Vergnügungspark funktioniert, mit „Audio-Animatronik von Menschen, die verschiedene Momente der osteuropäisch-jüdischen Geschichte in einer Schleife nachspielen (Kosaken und all das), während die Besucher in kleinen Bücherwagen auf einer langsam fahrenden Bahn sitzen“ – bis eines Tages alles abbrennt.
Eine hochkarätige Touristenattraktion
In gewissem Sinne ist die Idee eines Schtetls zu einem Disney-Film geworden, der in unserer Vorstellung in Hollywood spielt. Es ist eine hochkarätige Touristenattraktion, die ähnlich wie Holocaust-Museen und -Gedenkstätten funktioniert und sowohl Ehrfurcht als auch Kommerz anzieht.
Bei meinen Recherchen zu diesem Artikel stieß ich auf Ruth Wisses 2014 erschienene Kritik des Musicals „Anatevka“. Obwohl auch sie das Stück liebte (wer tut das nicht?), hatte sie doch ihre Vorbehalte:
„Tevye stellt die Liebe nicht über die Integrität des jüdischen Volkes ... Fyedka (Tevyes ukrainischer christlicher Schwiegersohn) wagt es, Tevyes Weigerung, die Konversion (seiner Tochter) Hava zum Christentum zu akzeptieren, mit der zaristischen Judenverfolgung gleichzusetzen. Dieser Vorwurf ist ungeheuerlich ... Er (Tevye) wird der Bigotterie bezichtigt, weil er die Integrität des jüdischen Volkes hochhält, und billigt am Ende die Mischehe des jungen Paares ... Man könnte versucht sein, Fjedkas Vorwurf gegen den Ankläger zu wenden: Die einen vertreiben die Juden aus Russland, die anderen vertreiben das Jüdische aus den Juden ... (dazu) gehören die Autoren des Fiddler, die die Würde ihres Helden zerstören, ohne sich dessen bewusst zu sein, was sie getan haben.“
Wisse zitiert Alisa Solomon, eine Theaterkritikerin und Journalistikprofessorin, die eine Studie verfasst hat, die laut Wisse „den Weg, auf dem sich Aleichems Drama des jüdischen Widerstands (gegen Kommunismus, Materialismus, Atheismus, Zionismus, Mischehen) zu einem Klassiker der Assimilation entwickelt hat“, dokumentiert, aber nicht geißelt.
Wisse hat nicht ganz unrecht. Das Musical macht Tevye tatsächlich zu einem „universellen“ Helden. In der Dokumentation sagt Jewison: „Das Thema der Familie ist universell. Jeder hat eine Familie. Am Ende sitzen wir alle an einem Tisch. Das passiert auch in Mondsüchtig.“ (Jewison führte auch bei diesem Film Regie.) In der Dokumentation sagt der musikalische Leiter und Dirigent John Williams, dass „Topol ein universeller Jude war. Er war ein Jude von überall.“ Und Topol selbst sagt: „Ich sah (das Musical) in Jugoslawien. Ich habe es in der Türkei gesehen. Ich habe es in Tokio gesehen. Ich meine, über eine Milliarde Menschen haben den Film gesehen. Sie können also nicht alle jüdisch sein.“
Auf unheimliche Weise vertraut
Das ist Hollywood, genau das verkauft sich. Die Geschichte von Anne Frank „verkauft“ sich auch deshalb, weil sie zunehmend als „universell“ dargestellt wurde, als ein Mädchen, das „trotz allem ... immer noch daran glaubt, dass die Menschen im Grunde ihres Herzens gut sind“. Die Tatsache, dass wir jetzt wissen, dass Frank nicht daran glaubte, scheint keine Rolle zu spielen.
Folgendes möchte ich zu Wisses Kritik an diesem sehr beliebten Musical noch hinzufügen. In einer großen akademischen Studie: „Gendered Violence: Jewish Women in the Pogroms of 1917–1921“ (Geschlechtsspezifische Gewalt: Jüdische Frauen in den Pogromen 1917–1921“) gibt die Autorin Irina Astashkevich das folgende, auf unheimliche Weise vertraut wirkende Gespräch wieder, das sie im Elias-Tscherikower-Archiv der YIVO gefunden hat:
„'Es tut mir leid für dich, Moischke, aber da ist nichts zu machen', sagte ein ukrainischer Mann zu seinem jüdischen Nachbarn in der ersten Maiwoche 1919, als Grigorjews Regimenter mehrere Städte in der Nähe eingenommen hatten und sich Dmitrowka näherten, einer kleinen Stadt in der Region Tscherkassy südöstlich von Kiew, wo die Nachbarn nun über das Unvermeidliche diskutierten: ein Pogrom. Der christliche Nachbar empfand wahrscheinlich Mitleid, wenn nicht sogar Sympathie für Moischke, der Plünderungen, Demütigungen, Folter und Gewalt ausgesetzt sein würde, aber gleichzeitig bedeutete dies wahrscheinlich eine ziemlich lukrative Angelegenheit für einen Nicht-Juden
... Als die bewaffneten Streitkräfte anrückten, kam es zu Pogromen und 'Ausschreitungen': Juden wurden in ihren Häusern und auf Bahnhöfen ausgeraubt, jüdische Frauen wurden vergewaltigt und jüdische Männer gefoltert und anschließend getötet.“
Völkermord im Schtetl
Erinnern Sie sich an die Hochzeitsszene in „Anatevka“? Tevye wird von einem freundlichen örtlichen Beamten gewarnt, dass ihm befohlen wurde zu stören, ein wenig Unruhe zu stiften, nichts allzu Ernstes ... aber die wirklichen Pogrome waren viel zu ernst. Laut Astaschkewitsch traten die Pogrome in Wellen auf, eine nach der anderen, und jede „dauerte vielleicht zehn Tage, während die Stadt den Besitzer wechselte ... (dann) begann das Pogrom von neuem mit der größten Brutalität“.
In diesem Zeitraum (1917–1921) gab es „über tausend Pogrome in etwa fünfhundert Ortschaften“. Astaschkewitsch hält dies für einen „Völkermord“, und der häufige, systematische Einsatz von Vergewaltigungen als Waffe kann als „völkermörderische Vergewaltigung“ bezeichnet werden. Leben – und auch der Verstand – gingen verloren, ganze Gemeinschaften wurden ausgelöscht, einige Frauen unternahmen einen Selbstmordversuch, einige hatten Erfolg, andere hörten auf zu menstruieren, einige mussten in eine psychiatrische Klinik eingewiesen werden, die meisten hatten danach für immer Angst, das Haus zu verlassen. Diese „gewalttätigen Ausschreitungen“ waren geplant und „zielten darauf ab, neben der physischen Ausrottung auch den sozialen Tod sicherzustellen ... viele Schtetl wurden zerstört und nie wieder aufgebaut“.
Die Details sind schmerzhaft und selbst aus sicherer historischer und geografischer Distanz schwer zu lesen. Verzeihen Sie mir, dass ich sie mit Ihnen teile, aber ich möchte, dass Sie sich vorstellen können, wie ein Pogrom an einem Ort wie Anatevka wirklich war. Nachdem zum Beispiel jedes Haus und jedes Geschäft sowohl von der Bevölkerung als auch von den Kosaken gründlich geplündert worden war, begann die „Unterhaltung“:
„Der Karneval der Gewalt mit Folter-, Vergewaltigungs- und Mordszenen spielte sich am zweiten Tag des Pogroms als 'feierliches Straßentheater' ab. Die Pogromtäter trieben Juden gezielt auf die Straße und machten Jagd auf ihre Opfer ... Folterungen fanden vor einem Publikum aus Pogromtätern, der lokalen Bevölkerung und verängstigten Juden statt. Die ritualisierte Gewalt wiederholte die vorangegangenen Pogrome, aber oft in einer groteskeren und entsetzlicheren Form. Das ältere Ehepaar, der 75-jährige Yudko Gurshevoy und seine vor Angst wahnsinnige Frau Bruckha, wurden nackt ausgezogen und gezwungen, unter dem Jubel der Kosaken wie gejagte Tiere durch die Straßen zu laufen.
Die Pogromschiki stachen mit dem Bajonett auf ihre Opfer ein, wobei sie darauf achteten, sie nicht zu töten, sondern die Verwundeten leiden und verbluten zu lassen, was manchmal mehrere Tage dauerte. Ältere wurden dem Tod überlassen, ohne dass ihre Familien ihnen helfen durften ... Die Pogromschiki sorgten dafür, dass alle Apotheken zerstört wurden und es keine medizinische Hilfe gab; dem einzigen verbliebenen nichtjüdischen Arzt war es bei Todesstrafe strengstens verboten, den Juden zu helfen.“
Zur Erinnerung: Dies alles geschah in der Ukraine, in Vororten von Kiew wie Makarow und in Berditschew, Zhitomir und Proskurow (heute Chmelnyzkyj) in der Westukraine, wo „der heftigste Angriff auf die Juden stattfand, der schätzungsweise 800 bis 1.500 Juden das Leben kostete“.
Ich erspare Ihnen weitere Einzelheiten – es gibt noch viele weitere.
Bittersüße, aber neue Anfänge
Natürlich gibt es ein Lied, dessen Text die Armut und das Elend des Schtetls offenbart, ein Lied, das die Bewohner von Anatevka auf ihrem Weg ins Exil singen: „Anatevka.“
„Was war denn hier schon los / Was war denn hier schon da / Ein Bett / Ein Tisch / Ein Stuhl / Ein Schrank / Man hätte hier ein Streichholz dranhalten sollen ... Was lässt man hier? / Nicht sehr viel. Außer Anatevka. Fröhliches, trauriges Anatevka / Hier war der Sabbat ja so schön ... Soll ich dich niemals wieder sehen? / Bald wird man ein Fremder sein an fremdem Ort / Und man findet keinen Menschen dort / Aus Anatevka / Ich gehör zu Anatevka / Fleißiges, ärmliches Anatevka. Geliebtes Dörfchen, kleiner Heimatort.“
Dieser Chor erreicht zwar nicht ganz das Niveau von Verdis Juden in Babylon in der Oper „Nabucco“, die sich nach Jerusalem sehnen, aber er ist eine Art Klagelied. Aus wie vielen Orten mussten die Juden schon fliehen – wenn sie denn das Glück hatten, dies noch können? Dennoch ist der Abschied hier fast friedlich, zumindest nicht überstürzt. Die Bewohner von Anatevka denken an bittersüße, aber neue Anfänge. Wir erkennen uns selbst oder zumindest die Vergangenheit unserer Vorfahren in ihrem Exil wieder, und unser Herz schlägt für sie.
Verbindung zu unserer ethnischen Vergangenheit
Aber ich muss fragen: Welche andere Gruppe hat das Bedürfnis, die schreckliche Gewalt gegen sie zu romantisieren oder abzuschwächen? Funktioniert das auf die gleiche Weise wie jüdischer Humor – um den Stachel der Scham oder Bitterkeit zu lindern?
Können wir uns vorstellen, dass Afroamerikaner nostalgisch darüber schwärmen, während der „Mittelpassage“ (Name für den Sklavenhandelsweg aufs nordamerikanische Festland, Anm. d. Red.) in Ketten an Bord eines Schiffes gewesen zu sein? Oder wie sie Lynchmorde oder Vergewaltigungen auf einer Plantage romantisieren? Oder den Verkauf von Kindern, die ihren Müttern weggenommen wurden? Ich würde sagen, dass die Pornografie der Sklavengewalt in Filmen des 21. Jahrhunderts (wie in „Django Unchained“) dazu dient, weiße Zuschauer zu beschämen. Die sadistischen Bestrafungen und der Sadismus werden nicht abgemildert. Ganz im Gegenteil. Die Grausamkeit wird vergrößert. Sie soll hervorgehoben und verurteilt werden, nicht abgemildert und übersehen werden.
Und dennoch, trotz (oder gerade wegen) der vielen Auslassungen, lieben wir alle „Anatevka“ und Geschichten über das Leben im Schtetl. Sie werden auch den Dokumentarfilm lieben. Hoffnungslose Nostalgie für „Anatevka“.
Laut Dr. Krystine Batcho ist Nostalgie eine Form von Heimweh, eine Sehnsucht nach einer einfacheren, leichteren Zeit und einem einfacheren Ort – auch wenn dieser nie existiert hat oder wir selbst nie dort gewesen sind. Auf diese Weise können wir eine Verbindung zu unserer ethnischen Vergangenheit herstellen und sie auf diese Weise würdigen. Als Juden wollen wir zumindest symbolisch an einer gewissen „Zusammengehörigkeit“ und an einer Gewissheit festhalten, die wir vielleicht nicht mehr haben.
Ich denke, dass eine solche Nostalgie auch den Wunsch zum Ausdruck bringt, die Vergangenheit ungeschehen zu machen oder wiederherzustellen, um die Gewalt und die Demütigung zumindest im Rückblick zu mildern. Wir werfen einen liebevollen Blick zurück, um unsere Vorfahren zu trösten.
Wie immer sehnen wir uns auch nach dem Paradies.
Dieser Beitrag erschien zuerst im Tablet Magazine.