Vera Lengsfeld / 04.02.2013 / 16:52 / 0 / Seite ausdrucken

Mensch Nazi

Das neue Buch von Stephan Krawcyk provoziert schon mit seinem Titel. Mensch Nazi?
Sind denn Nazis Menschen? Die werden doch aus Karnevalvereinen rausgeschmissen, in Kneipen nicht bedient und in Hotels verwehrt man ihnen ein Zimmer und bekommt dafür einen Preis für Zivilcourage.
Vor kurzem wurden wir von den Medien nachhaltig daran erinnert, was vor zwanzig Jahren in Rostock- Lichtenhagen geschah, wo jugendliche Skinheads ein Asylbewerberheim anzündeten , die von dubiosen älteren Männern aufgehetzt wurden, die   weder in der Berichterstattung vor zwanzig Jahren, noch in diesem Jahr vorkamen.
Wo kamen die Anfang der 90er Jahre auf dem Gebiet der ehemaligen, antifaschistischen DDR plötzlich so viele Nazis her?
Stepahn Krawcyks Buch bringt Licht in das Dunkel.
Eine Plattenbausiedlung am Rande von Berlin. Zwei ohne Vater aufgewachsene Jungen hängen jeden Tag an der Bushaltestelle ab, nachdem ihnen der „Hausgemeinschaftsraum“, den es damals in jedem Plattenbau gab, versperrt wurde.
Aus Protest oder Langeweile rasieren sie sich Glatzen, weil sie dadurch endlich mal auffallen. Der eine bleibt in Berlin und wird Redskin, der andere zieht nach Rostock und wird Nazi. Welcher Gruppierung man sich zugesellte, hing weitgehend vom Wohngebiet ab, in dem man lebte.
Die Geschichte des Nazis Klemens beispielhaft für viele ähnliche Lebensläufe. Sozialistisches Kinderheim, zerrüttete Familie, keine Bezugspersonen. Da passiert es, dass man sich die falschen Vorbilder sucht, weil man endlich dazugehören will, wozu ist schon egal. Man definiert sich über die Gruppe. Es gibt einen älteren Anführer, dem alle folgen . Am Schießstand wird schießen geübt. Wehrsport wird unter der Anleitung eines ehemaligen NVA- Offiziers betrieben, der die Jungen über einen aufgelassenen Armeeübungsplatz jagt, mit denselben Sprüchen wie einst seine NVA-Rekruten.
Die Bande schüchtert Passanten und Passagiere des Öffentlichen Nahverkehrs mit Nazis- Slogans ein, schlägt sich ab und zu mit Redskins und hört in der Stammkneipe ihrem Einheizer zu. Raus kommen die Jungs aus diesem Sumpf vor allem, wenn sie eine Frau kennenlernen, die ihnen wichtig ist.
Klemens wird durch ein Kind erlöst. Es ist das erste Kind, von dem Klemens seit seine Kindheit angesprochen wurde. Der Kleine hat keine Angst und will Klemens’ Halskette.  Er bietet ein Kinderbuch dafür, das der Verblüffte Skinhead annimmt und in dem er noch auf dem Bahnsteig, auf dem diese denkwürdige Begegnung stattgefunden hat, zu lesen beginnt.
Die Leute staunen: ein lesender Nazi ist ihnen noch nicht begegnet. Für Klemens ist diese Begegnung der Wendepunkt weg von seinen Kameraden. Er beginnt, sich als eine Person zu fühlen, die ihr Leben selbst in die Hand nehmen kann. Einfach ist dieses Leben auch nicht, aber es steckt voller Entdeckungen.
Das Buch ist ein eindringliches Plädoyer dafür, die gegenwärtige Haltung, die den Nazis gegenüber eingenommen wird, zu überdenken und zu korrigieren.
Ausgrenzung und Ausschluss vom öffentlichen Leben wird das Nazi-Problem nicht lösen, sondern verhärten.
Stephan Krawcyk hat den Mut aufgebracht, in dem Nazi den Menschen zu sehen. Es ist zu wünschen, dass er möglichst viele Leser von der Richtigkeit seiner Haltung überzeugt.

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