Bernhard Lassahn / 24.08.2011 / 11:55 / 0 / Seite ausdrucken

Zensur in der Literatur (4)

Teil 4: die Schlinge

Es ist soweit. Ich tue nun etwas, das ich nicht darf. Ich biete etwas zum Lesen an, das per Gerichtsbeschluss nicht gelesen werden soll, ich enthülle eine verbotene Passage. Nicht von Maxim Biller. Nicht von Maik Brüggemeyer. Es geht um einen Fall, der weitgehend unbekannt geblieben ist. Es handelt sich - so merkwürdig das jetzt klingt - um einen Glücksfall. Es geht nämlich um eine recht kurze Passage, die ich in voller Länge zitieren kann, ohne die Leser zu strapazieren. Die Klägerin kommt nur in diesen Zeilen vor. Sonst nicht. Das fragwürdige Glück besteht also darin, dass wir das Problem vollständig erfassen und qualifiziert beurteilen können. Der Fall ist angenehm übersichtlich.

Ein Sonderfall also. Ein Roman gehört ja zu den großen Formen, da gibt es eigentlich keine „Stellen“, auch wenn so mancher Leser nur danach geiert. Das heißt aber auch, dass man das Persönlichkeitsrecht auf Romane sowieso nicht anwenden kann. Kommt eine Figur an mehreren Stellen vor, dann relativieren sich die Stellen, sie widersprechen sich womöglich; eine Figur wird ambivalent und vielschichtig. Nicht nur im so genannten Entwicklungsroman entwickelt sich ein Charakter. Wo will da eine Klage ansetzten?

Hier zum Beispiel. Hier gibt es nur ein Zitat. Die Klägerin, die namentlich nicht genannt wird, argumentierte so: Der Ort des Geschehens ist so klein, dass ihr Fall bekannt ist, zumal darüber ausführlich in der Lokalpresse berichtet wurde. Sie ist also identifizierbar.

Das Argument wirkt auf den ersten Blick wie ein Eigentor. Wir fragen uns: Wenn schon die Presse darüber geschrieben hat, wieso darf der Fall nicht auch noch in einem Buch vorkommen? Hat sie etwa die Lokalpresse und die Leserbriefschreiber auch alle verklagt?

Dennoch war das Argument ein Treffer. Es geht nämlich nicht darum, ob etwas schon bekannt ist oder nicht, genauso wenig wie es darum geht, ob es wahr ist oder nicht, was der beklagte Autor geschrieben hat. Es geht nur darum, ob die Person identifizierbar ist und ob etwas „Persönliches“ über sie geschrieben wurde, wovon sie sich verletzt fühlen könnte.

Es geht auch nicht darum - wie wir es vielleicht dunkel als Fragestellung aus dem Deutschunterricht in Erinnerung haben -, was uns der Autor damit sagen wollte. Seine Intention spielt keine Rolle, sein künstlerisches Konzept auch nicht. Der Autor war übrigens von der Klage völlig überrascht; er wollte der Frau, die er nicht näher kannte, nichts antun. Er brauchte die kleine Skizze nur als Beitrag zu dem Gesamtbild, das er von dem Ort zeichnen wollte.

Egal. Der Mann, dessen Namen ich sicherheitshalber nicht erwähne, ist alles andere als ein Skandalautor oder ein Krawallmacher. Er gilt als anspruchsvoll und sensibel. Leser schätzen seinen lyrischen Ton. Seine Stärke liegt in der kleinen Form (der Roman ist auch eher schlank), seine Kurzgeschichten sind hervorragend.

Er wurde zu einer Geldstrafe verurteilt. Es war zwar nur ein Bruchteil von dem, was die Klägerin gefordert hatte (offenbar geht es bei Gericht zu wie auf dem Bazar), aber es war schmerzlich genug. Der Roman, dessen Titel ich ebenfalls streng geheim halte, durfte in der ursprünglichen Form, also mit der heiklen Stelle, die ich gleich zitieren werde, nicht mehr erscheinen.

Der Autor war nicht vorbelastet. Er ist kein Jude (was ich nur deshalb erwähne, weil Maxim Biller meint, dass es in seinem Fall eine Rolle spielt). Es waren keine alten Rechnungen im Spiel. Es gab keine Nebenschauplätze. Wir haben es wirklich mit einem Glücksfall zu tun: Hier zeigt sich Persönlichkeitsrechtsverletzung durch Literatur in ihrer reinen Form.

Achtung – es geht los: „Nach Süden sah ich hinab auf das alte Maschinenhaus. Nun wohnte in ihm ein Zahnarzt. Vor seiner Tür saß dunkel die Frau, hielt zwischen Lupinen ein Baby. Nach Norden hin besaß, wo die Bauern hatten abliefern müssen, den Getreidespeicher nunmehr ein Lehrer. Weitgereist war der, um sich ein Unglück heimzuholen. Bis nach Australien hin hatte er Umwege gelebt. Als dann im Speicher die starkhaarige Schönheit untergebracht war, zeugten sie Kinder. Er hatte seine Arbeit, sie die Kinder, und waren selber noch zwei. Sie sahen den Irrtum. Deutsch sprach die Frau bald nur noch wie Englisch. Den Haupt- und Tätigkeitswörtern entzog sie die Endungen für Fall, Zeitform, Geschlecht. Mit niemandem mehr sprach der Mann Hochdeutsch. Kurz kaute er die Sätze und platt. Auch das war brauchbar für ihr wechselseitiges Kampfgeschrei. Zwischendurch, als keiner hinsah, stürzte ihnen die Tochter ins Bad und schien erstickt. Sie wurde gerettet, mit ihr aber nicht das ganze Gehirn. Lange blieb das Kind, wie es herausgefischt war, klein und beschädigt. Das Unglück verbündete die Eltern kurz. Dann siegte ihr eigenes und hieß sie wieder kämpfen. In Dreck stürzten beide, die Kinder dazu, Familiendrecksturz.“

Das war’s. Ich erinnere an Daniel Kehlmann, der in einem Kommentar zum Fall Biller davon gesprochen hat, dass unter solchen Bedingungen ein Autor nur noch schreiben kann wie „in einer Diktatur“. Und ich erinnere daran, wie es in einer Diktatur zugeht, da gilt die Formel von Mao Tse Tung: Strafe einen, erziehe hundert. Da herrscht Unsicherheit. Willkür. Angst. Das ist gewollt. Der Autor weiß nicht, was er schreiben darf und was nicht. Er spürt aber, dass die Schlinge um den Hals enger wird.

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