Mein letzter Besuch in Berlin ist schon eine Weile her. Ich fand Berlin arm, aber sexy. Also keine Überraschung hier. Doch anders als John F. Kennedy möchte ich nie sagen müssen: „Ich bin ein Berliner.“ Warum nicht? Das hat mit der deutschen Teilung zu tun. Mit der deutschen Teilung von heute. Ost und West? Nein, die meine ich nicht.
Dass Deutschland auch noch ein bisschen in Ost und West geteilt ist, soll nicht bestritten werden. Aber die eigentliche Teilung von heute ist: Berlin und Nicht-Berlin. Das ist mir in zahlreichen Gesprächen mit Menschen, die das Schicksal dauerhaft nach Berlin verschlagen hat, jetzt wieder einmal klar geworden. Wie bei einem nicht buddelnden Archäologen, der die Funde der Kollegen vor Ort umso sorgfältiger auswertet, hat sich meine Analyse verfestigt: Deutschland ist in Berlin und Nicht-Berlin geteilt.
Bevor ich zu der, wie ich meine, unausweichlichen Konsequenz dieser Analyse komme, hier erst einmal ein paar Worte zur Analyse selbst. Berlin hebt sich vom übrigen Deutschland als Primadonna der political correctness ab, als Vortänzerin der deutschen Woke Community. Ob Genderei, ob Klo-Diversität, ob Sprach-Antirassismus, ob moralgetriebene Bilderstürmerei, ob Cancel Culture in Academia: Berlin ist in Deutschland die Quelle und zugleich der Hauptstrom dieser Phänomene.
Man hat sich auseinandergelebt
Der Rest des Landes greift das eine oder andere schon mal auf, spielt ein bisschen mit im Woke-Reigen. Aber das ist nichts Halbes und nichts Ganzes. Schauen wir uns doch die Großstadt-Konkurrentinnen mal an: Während Berlin arm, aber wokey ist, pflegt Hamburg die feine englische Art mit einer Prise viktorianischer Erotik-Schmuddelei. Woke läuft unter ferner liefen. München ist damit beschäftigt, reich und schickimicki zu sein, und hat als Stadt der Biergärten neben der Maß und dem Radi keinen Platz für an g'scherten Woke. Köln ist wie Berlin arm und auf diverse Art sexy, aber viel zu rheinisch, um irgendetwas ernst zu nehmen. Frankfurt ist reich und unsexy und woke ist an der Börse nicht vertreten. Schließlich das riesige Ruhrgebiet. Es ist arm wie Berlin, aber auf ganz eigene Weise selbstbewusst, gemäß der wunderbaren Selbsteinschätzung: „Woanders is‘ auch scheiße.“ Woke? Wat soll dat denn?
Der Rest ist das, was die Berliner Provinz nennen, also das, was man besser den flächendeckenden gesunden Menschenverstand nennen sollte. Es tröpfelt zwar überall ein bisschen woke herein, aber nicht genug, um ein vernünftiges Leben zu beeinträchtigen. Selbst wenn sich in meinem schönen Augsburg nach jugendlichen Protesten ein Hotel namens „Drei Mohren“ sprachbereinigend in „Maximilian's“ umbenannt hat, so war das vor allem eine Business-Entscheidung. Vielleicht will man so Besucher aus Woke City, also aus Berlin anlocken. Der Rest der Stadt pflegt die landesübliche Normalität.
Nun also Punkt zwei: Was folgt aus dieser Analyse? Ich meine, die Teilung Deutschlands in Berlin und Nicht-Berlin wirft die Frage auf: Wozu brauchen wir eigentlich Berlin? Und wozu braucht Berlin die restliche Republik? (Also gut, das Geld aus der unwoken Provinz ist schon willkommen.)
So oder so: Man hat sich auseinandergelebt und wird immer mehr zu einem Fall, der im Interesse aller auf eine Scheidung hinauslaufen sollte. Als Wahl-Bayer kenne ich seit langem die beim Bier ausgesprochenen Scheidungswünsche der Bajuwaren von den „Preußen“. Aber diese Sache ist gegessen. Der Freistaat hat die Entscheidung zu lange verschleppt. Inzwischen kann es nur noch heißen: Zähne zusammenbeißen und das gemeinsame Leben so gut wie möglich über die Bühne zu bringen.
Bexit oder informelle Trennung auf Zeit?
Es sei denn, es bietet sich eine zweite, anders strukturierte Chance. Eine von den Alpen bis an die nördlichen Meere gemeinsame Separierung vom woke gewordenen historischen Zentrum Preußens. Tatsächlich scheint im Fall Berlin und Nicht-Berlin der Zeitpunkt für eine Scheidung vergleichsweise günstig zu sein. Mitten in einem Super-Wahljahr sollte es kein Problem sein, als ein Stück unmittelbarer Demokratie noch eine Volksbefragung dazu zu schalten. Das Referendum könnte folgendermaßen formuliert werden: „Soll Berlin ein Bestandteil der Bundesrepublik bleiben oder soll Berlin ein selbstständiger Stadtstaat und der Rest der Republik von Berlin befreit werden?“
Sollte sich für eine solche Scheidung eine Mehrheit finden, käme also nach dem Brexit nun auch der Bexit, so wären natürlich – wie nach dem Brexit – einige Folgemaßnahmen notwendig. Die Bundesregierung würde am besten wieder nach Bonn ziehen, an diesen kleinen Ort, der trotz seiner großen Geschichte der Selbstüberschätzung regierender Häupter natürliche Grenzen setzt. Die in letzter Zeit besonders spürbare Levitation der Bundesregierung im Raumschiff Berlin mit seiner woken Schlagseite wäre am Rhein kaum möglich. Die rotrotgrüne Berliner Landesregierung wiederum könnte es sich – nun zur Staatsregierung erhoben – im Reichstag und im Kanzleramt auf klassische Weise sozialistisch-pompös gemütlich machen.
Der freie Verkehr von Menschen und Waren könnte – anders als im Fall Brexit – unbehindert weiterlaufen, da auch nach einem Bexit beide Staaten Mitglieder der Europäischen Union blieben. Allerdings sollte der Scheidungsvertrag eine Klausel enthalten, der der verbleibenden Republik das Recht einräumt, allzu aufdringliche Woke-Missionare aus Berlin des Landes zu verweisen und notfalls im Stil einer Luftbrücke zurück an die Spree zu verfrachten.
Sollten diese Überlegungen zu verwegen oder der Zeitplan zu knapp berechnet sein, so böte sich auch übergangsweise eine informellere Trennung auf Zeit an. Mit der Option, eine formelle Scheidung folgen zu lassen oder – fair ist fair – mit der Option, sich wieder zusammenzufinden. Sollte sich aber eine Mehrheit gegen einen Bexit aussprechen, so müsste wohl das gleiche gelten, das auch für den nicht vollzogenen bayerischen Austritt aus dem Bund gilt: Zähne zusammenbeißen und für den Rest der Tage eine Vernunftehe führen, auch wenn man sich gegenseitig auf die Nerven geht.