Oliver Marc Hartwich, Gastautor / 17.09.2012 / 03:16 / 0 / Seite ausdrucken

Wir stellen vor: Europas oberste Führungsinstanz

Besucher des EU-Viertels in Brüssel werden gegenwärtig von einem riesigen Plakat an der Fassade des Berlaymont-Gebäudes begrüßt, dem Hauptquartier der EU. Es verkündet mehr wirtschaftliche und politische Einigung für die EU und steht damit in krassem Widerspruch zu den immer wiederkehrenden Anzeichen von Uneinigkeit und Konflikt, die sich überall in Europa zeigen. Aber das ist nicht das Einzige in Europa, das einen Orwellschen Beigeschmack hat.

Die Eurokrise ist nicht nur eine ökonomische Wasserscheide für den Kontinent - sie führt zu einer Umdefinition der europäischen Demokratie. Europäische Politiker und Zentralbanker bedienen sich einer verräterischen Sprache.

Als EZB-Präsident Mario Draghi verlauten ließ, er wolle den Euro mit unbegrenzten Anleihenkäufen stützen, klang er nicht wie ein um Preisstabilität besorgter Notenbankchef, sondern wie ein Politiker. Es fiel ihm nicht schwer, den europäischen Regierungen und Parlamenten zu sagen, was er als Gegenleistung für die Unterstützung durch seine EZB von ihnen erwartete. Draghi, der Herr der Zentralbank, hatte sich in Draghi, den Herrn der Staatshaushalte, verwandelt.

Die EZB nimmt nun eine bizarre Position in der Pseudo-Demokratie der EU ein. Einerseits hat sie die Macht, in Schieflage geratene Länder zur Umsetzung von Sparmaßnahmen zu veranlassen, ihre Sozialhaushalte zu kürzen, ihre Arbeitsmärkte zu reformieren und ihre Steuersysteme zu ändern. Andererseits zwingt sie die stärkeren Volkswirtschaften Europa in eine De-facto-Schuldenunion, da letztlich die Steuerzahler von Ländern wie Deutschland, Luxemburg und Finnland für all die risikoreichen Anleihenkäufe der EZB haften.

Für keine dieser Aufgaben hat die EZB ein Mandat. Sie sollte zu keinem Zeitpunkt nationale Politik außer Kraft setzen oder Wirtschaftsreformen durchsetzen. Sie war auch nicht als Instrument einer europaweiten Schuldenvergemeinschaftung gedacht. Auch wenn Draghi den geänderten Charakter der Bank in der Sprache der Zentralbanker zu verschleiern versucht, indem er auf einen angeblich wirkungslosen geldpolitischen Transmissionsmechanismus verweist, ist sie in Wirklichkeit zu einem politischen Arm des Euro-Establishments geworden.

Die Wirtschaftswissenschaftler sind sich einig, dass Zentralbanken Unabhängigkeit brauchen, um ihre Kernaufgabe, die Sicherung der Preisstabilität, wahrnehmen zu können. Unabhängigkeit einer Zentralbank bedeutet jedoch nicht, dass sie indirekt den Kurs der Fiskalpolitik bestimmen darf. Mit diesem Schritt hat die EZB die Position eingenommen, die normalerweise gewählten Parlamentariern und Regierungen zukommt.

Die Demokratie in Europa ist auf dem Rückzug - nicht nur durch die Selbstkrönung von Mario Draghi als Europas oberster Führungsinstanz. Auch sein Landsmann Mario Monti, der italienische Premierminister, brachte eigene Ideen zur Umdefinition der liberalen Demokratie ein.

Vor einigen Wochen gab Monti dem deutschen Nachrichtenmagazin Der Spiegel ein langes Interview. Darin bekamen wir einen Einblick in Montis Demokratieverständnis, als er erläuterte, eine Regierung habe die Aufgabe, ihr Parlament zu disziplinieren. Das war eine ganz neue Perspektive der Demokratietheorie, denn gewöhnlich ist es umgekehrt.

Aber was weiß Monti schon über demokratische Prozesse? Er ist in alle seine politischen Ämter nicht gewählt, sondern stets berufen worden. Vor seiner Ernennung zum EU-Kommissar wurde er wenigstens von der damaligen italienischen Regierung nominiert. In sein derzeitiges Amt als italienischer Premierminister wurde er jedoch praktisch von Frankreich und Deutschland gehievt, als diese sich zur Entmachtung seines Vorgängers Silvio Berlusconi verschworen.

In Europas Demokratie hat Monti den Part von Montesquieu übernommen. Die Trennung von politischer Macht und demokratischer Willensbildung gehört nun nicht mehr zu den Grundpfeilern der politischen Systeme. Statt dessen bestimmen die Eliten das Geschehen und sie dulden keine Opposition.

In einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem EU-Präsidenten Herman van Rompuy - ebenfalls ein nicht gewählter Akteur - schlug Monti die Einberufung eines Sondergipfels zur Beratung über ‘anti-europäischen Populismus’ vor. Damit meint er alle Kritiker des Weges, den die Europäische Union einschlägt.

Gemessen an den Ergebnissen der letzten Eurobarometer-Umfrage hätte Montis Anti-Populismus-Gipfel eine gewaltige Aufgabe vor sich. Nur 31 Prozent aller Europäer geben an, Vertrauen in die EU-Institutionen zu haben – ein Allzeittief. Angesichts dieses breiten öffentlichen Misstrauens gegenüber der EU überrascht es, dass es unter europäischen Politikern so wenige offene EU-Kritiker gibt. Die meisten europäischen Parteien stehen immer noch hinter dem Projekt der europäischen Integration.

Statt sich zu fragen, wie es dazu kam, dass die Europäer so kritisch und skeptisch gegenüber der EU sind, setzt Monti mit der Forderung nach seinem Anti-Populismus-Gipfel alles daran, ihre Befürchtungen noch zu bestätigen. Wenn ein nicht gewählter Politiker Kritik dadurch entgegentritt, dass er einen Sondergipfel darüber einberufen will, so weht einen mehr als nur ein Hauch von Sowjet an. Es zeigt zudem die Arroganz der politischen Klasse Europas und ihre vollständige Verachtung für ihre Wähler und deren Wünsche.

Ebenso wie Draghi seinen Griff nach der Macht wie geldpolitische Besonnenheit aussehen lässt, kleidet Monti seine autoritären Ansprüche in die bildhafte Sprache der europäischen Integration und Zusammenarbeit. Allerdings kann er nicht verschleiern, dass seine Forderungen eigentlich einen Abschied von der liberalen Demokratie bedeuten.

Das Demokratiedefizit der Europäischen Union ist inzwischen ebenso hoch wie das Haushaltsdefizit des Kontinents - und ebenso wie das Haushaltsdefizit die europäische Wirtschaft vergiftet, untergräbt das Demokratiedefizit genau die Fundamente, auf denen die Europäische Union einst erbaut wurde: Rechtsstaatlichkeit, Liberalismus, Pluralismus und Gewaltenteilung.

In der Europäischen Union wird Kritik als Populismus denunziert, Fahrlässigkeit wird als Besonnenheit tituliert und Spaltung wird zu Integration. Da ist es schwierig, sich angesichts der Fassade des Berlaymont-Gebäudes nicht an das Orwellsche Wahrheitsministerium erinnert zu fühlen.

Dr. Oliver Marc Hartwich ist Executive Director der The New Zealand Initiative.

‘Meet Europe’s leader of last resort’ erschien zuerst in Business Spectator (Melbourne), 13. September 2012. Aus dem Englischen von Cornelia Kähler (Fachübersetzungen - Wirtschaft, Recht, Finanzen).

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Oliver Marc Hartwich, Gastautor / 04.10.2019 / 06:26 / 26

Vorsicht, lebende Anwälte künftiger Generationen!

Der deutsche Umweltrat will einen „Rat für Generationengerechtigkeit“ schaffen und das Gremium mit einem Vetorecht ausstatten, um Gesetze aufzuhalten. Was davon zu halten ist, wenn Lobbygruppen sich zu…/ mehr

Oliver Marc Hartwich, Gastautor / 24.06.2016 / 09:45 / 0

„Wen der Brexit nicht aufweckt, dem ist nicht zu helfen“

Achse-Autor Oliver Hartwich lebt in Neuseeland und ist dort Direktor des Wirtschafts-Verbandes und Think-Tanks „The New Zealand Inititiative.“ Gestern (das britische Abstimmungs-Ergebnis war noch nicht…/ mehr

Oliver Marc Hartwich, Gastautor / 04.02.2016 / 05:22 / 3

It’s time for Merkel to go

“With her actions during the refugee crisis, Merkel is dwarfing even these previous policy blunders. If one were to add up all her mistakes, they…/ mehr

Oliver Marc Hartwich, Gastautor / 27.09.2015 / 02:39 / 0

A plea for national identity

Diese Woche erhielt ich meine dauerhafte und uneingeschränkte Aufenthaltsgenehmigung für Neuseeland (nachdem ich zuvor mit einem australischen Visum in Wellington lebte). Grund genug, sich über…/ mehr

Oliver Marc Hartwich, Gastautor / 24.09.2015 / 13:16 / 11

Das Volkswagen-Fiasko und seine Folgen

Mit dem Eingeständnis von VW, die Abgaswerte seiner Fahrzeuge systematisch manipuliert zu haben, wurde nicht nur der weltweit größte Automobilhersteller in eine Krise gestürzt, auch…/ mehr

Oliver Marc Hartwich, Gastautor / 18.09.2015 / 10:13 / 6

Die EU zerfällt

Letzte Woche schrieb ich an dieser Stelle, dass Europas Flüchtlingskrise die EU entzweien könnte. Diese Woche konstatiere ich die Fortschritte während der letzten sieben Tage…/ mehr

Oliver Marc Hartwich, Gastautor / 11.09.2015 / 09:55 / 6

Die europäische Flüchtlingskrise bringt die EU ins Wanken

„Immerhin kommt Deutschland jetzt in den Medien besser weg“, sagte mir ein befreundeter Geschäftsmann vor ein paar Tagen. „Ein erfreulicher Unterschied zu dem, was wir…/ mehr

Oliver Marc Hartwich, Gastautor / 09.09.2015 / 11:00 / 2

Europas Niedergang und seine Wurzeln

Vor fünf Jahren bot mir Alan Kohler an, im wöchentlichen Turnus die Wirtschaftslage in Europa zu kommentieren. Inzwischen habe ich die europäische Schuldenkrise in mehr…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com