Rainer Bonhorst / 26.09.2021 / 12:00 / Foto: Kuebi / 16 / Seite ausdrucken

Wir sollten wissen, was wir nicht wissen 

Ich weiß, dass ich nichts weiß, soll Sokrates gesagt haben. Aber das ist wohl übertrieben. Korrekter ist wohl der Satz: Ich weiß, was ich nicht weiß. Gar nichts zu wissen, wäre für einen gestandenen Philosophen ja auch ein Armutszeugnis. Aber zuzugeben, dass er vieles nicht weiß, steht ihm gut zu Gesicht. Und es passt auch besser in die Schlussphase des Wahlkampfes, um die es hier gehen soll. Denn: Was weiß man schon? Aber wir sollten wenigstens wissen, was wir nicht wissen.

Da im Wahlkampf keine Philosophen am Werk sind, gibt es Heerscharen von Wissenden, auch wenn die Wahrheit, bayerisch ausgedrückt, so lautet: Nix g'scheits woaß mer net. Daran kann auch der norddeutsche Olaf Scholz nichts ändern, er mag sich noch so oft als fast schon gewählter Kanzler geben, wie in seinem letzten Triell. Auch die mediale Einschätzung, dass er die dritte Plauderstunde gewonnen hat, sagt nichts. Was bedeutet schon ein Punktgewinn in einer Fernsehdampfplauderei. A Nixla in an Bixla, wie meine fränkische Großmutter zu sagen pflegte. (Übersetzung für Hochdeutsche: Ein Nichtslein in einem Büchslein.)

Das Nichtwissen oder Kaumetwaswissen gliedert sich in zwei Etappen: vor der Wahl und nach vollendeter Wahl.

Erste Etappe, vor der Wahl, also jetzt: Wer diesmal Erster, Zweiter oder Dritter wird, weiß kein Mensch. Hier drei Hauptgründe des Nichtwissens: mehr Briefwähler denn je; 40 Prozent Unentschiedene, und der schwankende Boden, auf dem sich die Demoskopen bewegen. Von tausend Befragten auf viele Millionen zu schließen, ist genauso schwierig, wie das Klima in fünfzig Jahren vorherzusagen. Das Etikett Wissenschaft sollte in beiden Fällen nicht ganz so selbstbewusst verwendet werden. 

Man sollte nicht so tun, als wüsste man Genaueres

Die Demoskopen geben immerhin – unterschiedlich laut –  eine Fehlermarge von drei Prozent zu. Es darf auch ein bisschen mehr sein. Selbst ich, mit meinen fehlerhaften Mathematik-Kenntnissen (persönliche Fehlermarge: drei Prozent), kann mir ausrechnen, was das in einem Rennen bedeutet, deren Teilnehmer zwei bis vier Prozent auseinander liegen sollen. Nach Adam Riese und nach meinen bescheidenen Rechenkünsten bedeutet das: a Nixla in an Bixla. Das ist nicht weiter schlimm, aber man sollte nicht so tun, als wüsste man Genaueres, wenn man eigentlich nur Ungenaueres weiß.

Und die Unentschiedenen? Die sind freie Agenten. Sie können sich sehr unterschiedlich entscheiden und müssen sich keineswegs demoskopisch gestaffelt auf die Bewerber verteilen. Sie können sich sogar entscheiden, gar nicht zu wählen. Oder sie entscheiden sich heute so und morgen so, und am Sonntagmorgen so, aber am Sonntagnachmittag anders. Viele „Unentschiedene“ haben sich vielleicht schon längst entschieden, verraten es aber nicht. Ätschibätschi, wie eine Politikerin so treffend gesagt hat, die in ein Kabinett Scholz zurückkehren könnte. Oder auch nicht. Der Unentschiedene ist der Feind des Demoskopen. Fast jeder Zweite ist so frei. Das ist ein dicker Stachel im Fleisch der Meinungsforscher. 

Nur die Briefwähler, diesmal ein stattliches Millionenheer, haben sich schon bindend entschieden. Die haben sich dann die Triellen (oder die Triells), also die Dreierplaudereien gemütlich angeschaut und sich gedacht: Redet ihr nur, mich kriegt ihr nicht mehr rum. Oder, um es klassisch feiner auszudrücken: Zu spät, du rettest den Freund nicht mehr.

Kanzler werden nicht von den Wählern gewählt, sondern vom Bundestag

Und jetzt kommen wir zur zweiten Etappe, zum heutigen Wahlsonntag. Da weiß man endlich Bescheid, oder? Nix is. Man hockt gespannt vor dem Fernseher, lauert auf die ersten Prognosen, und dann kommen die Hochrechnungen und dann … ja, was dann? Einer oder eine liegt vorn und spürt den Atem der Verfolger im Nacken. Und nichts ist entschieden. Ein Bundestag ist gewählt, aber kein Kanzler und auch keine Kanzlerin. Kanzler werden nicht von den Wählern gewählt, sondern vom Bundestag, basta. Und das kann sich hinziehen und zu unerwarteten Ergebnissen führen. 

Angela Merkel wollte beim letzten Mal ein schwarz-grün-gelbes Kabinett basteln und landete bei einem schwarzroten, weil der gelbe Christian Lindner im letzten Moment den Spielverderber machte. Es war ein ewig langes Nervenspiel. Auch der Erstplatzierte wird nicht immer Kanzler. Das könnte zum Beispiel Willy Brandt bezeugen, der 1969 als abgeschlagener Zweiter dem Ersten, Kurt Georg Kiesinger, den Thron vor der Nase weggeschnappt hat, damals mit Hilfe der FDP.

Tja, so ist es. Man mag zwar etwas mehr als gar nichts wissen, aber viel ist es nicht. Amerika, du hast es besser oder auch schlechter. Da wird der Präsident unabhängig vom Kongress gewählt. Wir machen es nun mal anders. Wir wählen weiß der Teufel wie viele Abgeordnete, und deren Vorsprecher kungeln dann aus, wer uns regieren wird. Und da es diesmal besonders eng zugeht und nicht nur zwei um den Sieg rennen, sondern drei, und ein Vierter und ein Fünfter auch noch mitspielen, dürfen wir uns freuen, wenn wir noch vor Weihnachten erfahren, welche Regierung uns beschert wird.

Bis dahin gilt, weil's so schön ist, noch'n Klassiker: Da steh' ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor.   

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Thomas Kache / 26.09.2021

Das Erschaudernde in Deutschland ist ja eigentlich, das in etwan 2/3 bis 4/5 der Wähler gar nicht bekommen, was sie eigentlich gewählt haben. Währe die Bundesregierung ein Resaurantbetrieb, würde derjenige, der die Zeche bezahlen muss, weniger der Gelackmeierte sein. Wenn der Gast etwas bei der Bedienung bestellt, bekommt er das auf den Tisch gestellt. Wenn es ihm nicht schmeckt, gibt es zum Einen die Möglichkeit, das Bestellte zu reklamieren, zum Anderen kann der Gast zukünftig die Lokalität meiden. Was macht der geneigte Wähler mit der Regierung, die er so nicht gewollt hat? Die muss er mindestens 4 Jahre ertragen. Und trotzdem die Zeche zahlen. Schauerlich.

Walter Weimar / 26.09.2021

Bei aller Streiterei, diesmal ist es besser, die Kandidaten der Nationalen Front wählen den Bundeskanzler. Die Frage ist nur, aufgepaßt Thüringen(!) läßt grüßen und mahnt, wo wird die AfD ihre Stimme platzieren. Schau ma mal ...

Peter Holschke / 26.09.2021

Der arme Autor! Er wird bis Weihnachtet nicht wissen, wer ihn regiert! Ich vermute das spielt 1. keine große Rolle, von wem man regiert wird - wenn man regiert wird 2. der Autor wird auch nach Weihnachten nicht wissen, wer ihn in Wirklichkeit regiert. Allenfalls kennt er dann die Namen der offiziellen Marionetten. Ich nehme an, er wird auch weiterhin von denen regiert werden, welche ihn bisher regiert haben. Es kommt vielleicht noch mehr Wahnsinn dazu.

Hjalmar Kreutzer / 26.09.2021

M.E. hat unser politisches System und Wahlrecht gravierende Mängel: Bereits im Parlament vertretene Parteien dürfen ohne weiteres Kandidaten aufstellen, neue Bewerber und Parteien können draußen gehalten werden durch eine willkürlich von den Etablierten festgelegte notwendige Zahl an Unterstützer-Unterschriften. Unterstützerunterschriften können häufig nur während der Arbeitszeit der Ämter abgegeben werden. Das Verhältniswahlrecht mit Überhang- und Ausgleichsmandaten bläht das Parlament auf, kann potenziell die Direktmandate marginalisieren und führt zu Ämtervergabe nach Parteienproporz und gewünschter Pfründe statt nach Fachkompetenz der Minister und Staatssekretäre, aber auch in öffentlich-rechtlichen Körperschaften und Medien. In den Fraktionen haben die Parteiführungen das Sagen. Fraktionslose Abgeordnete werden hinsichtlich Redezeit, Anfrage- und Antragsrecht benachteiligt. Auch für Referenden, Volksbegehren, Volksentscheide werden die Hürden willkürlich hochgesetzt, Referenden auf Bundesebene sind bisher nicht möglich. Für die Präambel eines Parteiprogramms einigte man sich auf „Verteidigung der Demokratie“. Ich hätte eher dem Gegenvorschlag „Wiederherstellung der Demokratie“ zugestimmt. Wir haben die Demokratiefassade einer Parteiendemokratur.

A. Ostrovsky / 26.09.2021

“wenn wir noch vor Weihnachten erfahren, welche Regierung uns beschert wird.” Weihnachten liegt auch weit in der Zukunft. Bis dahin kann sich noch viel ändern.

Wolf Hagen / 26.09.2021

Stimmt schon, der Wähler und Souverän dürfte wohl der Unwissendste von allen Beteiligten sein, aber abzusehen ist, dass es keinen konservativ-liberalen Rechtsruck geben wird. Ein gewaltiger Rechtsruck wäre aber nötig. Und daher ist der Rest eigentlich auch egal. Ich persönlich hoffe mittlerweile zynisch auf Rot-Grün-SEDrot, denn dieses Land muss erst mal wieder fürchterlich vor die Wand fahren, bevor Vertreter der Vernunft, statt linker Ideologen, eine Chance haben, die Macht zu übernehmen.

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