Buchempfehlung: Freigiebige Vögel, hilfsbereite Fledermäuse, artige Affen. Rolf Degen suchte und fand in der Natur starke Hinweise, dass wir das Gute geerbt und nicht erlernt haben …
Erschienen in LITERARISCHE WELT am 05.01.2008
Die Natur ist blutig rot an Zähnen und Klauen, lautet ein angelsächsische Redensart, die viele als Kurzzusammenfassung des Darwinismus verstehen. Die seit fast einem halben Jahrhundert in der Tierforschung dominierende Soziobiologie schien dieses Bild immer aufs Neue zu bestätigen: Alle Lebewesen sind Egoisten, gesteuert von Genen, die sich reproduzieren wollen, koste es was es wolle – und sei es das Glück oder gar das Leben eines anderen. Diese Sichtweise auf die Natur und die Menschen fügte sich obendrein bestens ins Weltbild der Religionen. Ohne Gott würde Mord und Totschlag herrschen, tönt es von den Kanzeln. Erst Moses mit seinen Gesetzestafeln und Jesus mit seiner Bergpredigt hätten dafür gesorgt, dass aus Keulen schwingenden Wilden humane Wesen wurden, die für das Rote Kreuz spenden und den Sitzplatz freigeben, wenn ein Greis die Straßenbahn betritt.
Doch es bleiben Zweifel am segensreichen Wirken der Gottesverehrung. Denn schließlich herrschen in Teilen der Erde nach wie vor Mord und Totschlag – und das oftmals angefacht von Religionen (zugegeben, zur Zeit speziell von der einen, aber früher waren die anderen auch nicht viel friedlicher). Das ist der Stoff aus dem Richard Dawkins und Christopher Hitchens die Bestseller des Herbstes geschrieben haben.
Allen, die diese Debatte um Religion und Moral interessiert verfolgen, liefert der deutsche Wissenschaftsjournalist Rolf Degen gute Gründe für weiteres Nachdenken. In seinem Buch steckt mindestens soviel atheistischer Sprengstoff wie in denen von Dawkins und Hitchens. Und dass, obwohl es vordergründig gar nicht um Religion geht. Auch der Titel gibt keinen Hinweis darauf: „Das Ende des Bösen – Die Naturwissenschaft entdeckt das gute im Menschen.“ Degen liefert Befunde, um eine allzu krude Soziobiologie relativieren – darum geht es ihm. Mensch und Tier sind nicht so eindimensional egoistisch, wie uns seit Jahrzehnten berichtet wird.
Doch während Degen die Theorie vom Egoismus der Gene demontiert, zerfällt ganz nebenbei auch der Glaube an die Notwendigkeit von Religion. Denn seine zahlreichen Beispiele aus Zoologie, Anthropologie und Psychologie legen nahe, dass der Zug in Richtung Humanität längst rollte als Moses vom Berg herabstieg.
Schon Max Horkheimer schrieb: „Die Menschen sind gewöhnlich viel besser als das, was sie denken, sagen oder tun.“ Dass dies tatsächlich so ist, wurde in letzter Zeit in zahlreichen ausgetüftelten Versuchen nachgewiesen. Psychologen arrangierten dafür Spiele, bei denen es um echtes Geld ging - wissend, dass es leichter fällt, gut zu sein, wenn man nur symbolisch gewinnt oder verliert. Diese Spiele waren so aufgebaut, dass man sowohl mit egoistischen als auch mit kooperativen Strategien gewinnen konnte. Zur Verwunderung aller Misanthropen benahmen sich die Versuchspersonen in der Regel viel sozialer und großzügiger als plausibel wäre, wenn uns tatsächlich die reine Ichsucht in den Genen steckte. Dabei fiel auf, dass das Bestrafen von unfairem Verhalten den meisten Menschen sehr wichtig ist. Viele Probanden nahmen eigene Verluste in Kauf, um sicher zu stellen, dass der Anti-Soziale bestraft wird.
Dieser Drang zur sozialen Kontrolle zahlte sich wahrscheinlich schon für die sammelnden und jagenden Urhorden aus. Es war überlebenswichtig, Betrüger zu ächten. Aber nicht nur Menschen, sogar Raben bestrafen asoziales Verhalten. Im Rabenschwarm gilt die Regel, wer ein Stückchen Futter hat, wird nicht behelligt. Verletzt ein Vogel diese Norm und versucht seinem Artgenossen Futter zu stibitzen, geht fast jedes Mal ein Dritter dazwischen und hackt mit dem Schnabel nach dem Dieb. Das erstaunliche daran: Der bestrafende Rabe hat keinen Vorteil von seiner Aktion, außer dass die soziale Norm insgesamt gestärkt wird.
Gegenseitige Hilfe zwischen nicht verwandten Tieren läuft meist nach dem Motto, wie du mir so ich dir. In der Fachsprache heißt dies reziproker Altruismus. Bei Schimpansen ergab sich nach Tausenden von protokollierten Einzelbeobachtungen ein deutliches Bild: Jeder Affe weiß genau, wer ihm schon mal Futter abgegeben oder einen anderen Gefallen getan hat und richtet sein eigenes Handeln danach. Geizhälse werden sozial isoliert und beziehen Prügel, wenn sie andere um Leckerbissen anbetteln. Überaus sozial verhalten sich auch Vampire - nicht die Untoten aus den Gruselfilmen, sondern die gleichnamigen südamerikanischen Fledermäuse. Sie saugen kleine Mengen Blut von Weidetieren (was diese meist nicht einmal bemerken). Nach den nächtlichen Beutezügen kehren sieben Prozent der Blutsauger mit leerem Magen zum Schlafplatz zurück. Der kleine Körper dieser Feldermäuse braucht jedoch täglich Nahrung, um am Leben zu bleiben. Andere Vampire – auch Nicht-Verwandten – füttern die Erfolglosen durch.
Solche Hilfsbereitschaft muss bei manchen Tierarten nicht einmal reziprok im engen Sinne sein (indem nur Artgenossen geholfen wird, die einem zuvor selbst Gutes taten). Beim Graudrossling, einem orientalischen Singvogel, beobachteten Verhaltensforscher ein regelrechtes Wetteifern um die Rolle des Freigiebigsten. Der gute Ruf, den sich der Vogel so erwirbt, ist offenbar ein Überlebensvorteil, der die Kosten der Freundlichkeit überwiegt
Solcher Altruismus kann auch Paarungsvorteile bringen, denn Großzügigkeit beeindruckt das andere Geschlecht. In allen menschlichen Kulturen überprüfen die angehenden Liebespaare sich gegenseitig - bewusst oder unbewusst - auf eine Reihe sozialer Tugenden. Wer sich geizig und egoistisch zeigt, verringert in der Regel seine erotischen Chancen. Allein die Anwesenheit einer attraktiven Frau kann die Hilfsbereitschaft von Männern – auch gegenüber Dritten - erheblich steigern.
Zu den überraschendsten Indizien, die Degen fand, um seine These einer evolutionär entstandenen Moral zu stützen, gehört die Schamesröte. Sie ist ununterdrückbar, nicht vortäuschbar und allen Menschen gemein. Schamesröte stellt sich ein, wenn wir Normen verletzen und dies bereuen. Sie ist für die anderen ein sicherer Indikator, dass die rot werdende Person die Normen anerkennt und sich schlecht fühlt, weil sie sie übertreten hat. Den Menschen aller Kulturen ist Schamesröte peinlich und sie versuchen sich so zu benehmen, dass keine Beschämungssituation besteht. Die Fähigkeit unserer Augen Rot und Grün zu unterscheiden, entstand möglicherweise um Schamesröte wahrzunehmen. Denn alle Affenarten mit behaarten Gesichtern sind rot-grün-blind (wie viel andere Tiere auch), die mit nackten Gesichtern nicht. Ein unbehaartes Gesicht zeigt verlässlich den Gemütszustand – eine wichtige Information im sozialen Zusammenleben. „Moral,“ schreibt Degen, „gründet sich auf ein Repertoire von urzeitlich geformten Gefühlen.“ Moses und Jesus haben also nicht das Gute in die Welt gebracht, sondern uns Menschen nur dort abgeholt, wo uns die Evolution schon hingeführt hatte.
Rolf Degen: Das Ende des Bösen. Die Naturwissenschaft entdeckt das Gute im Menschen. Piper, München 2007. 304 Seiten, 19,90 Euro.