Das sind die Schlagzeilen, vor der sich die Regierungsparteien vor der Bundestagswahl gefürchtet haben. Aber auch nach der Wahl tun sie noch weh. „Wann dürfen Deutsche töten?“ titelt der „Spiegel“ vergangene Woche – als Sturmgeschütz des Pazifismus. Eine rhetorische Frage. Sie tun es ja laut Spiegel bereits: Daß Bundeswehrsoldaten am Hindukusch „töten, bomben, mitmachen“ müßten bei einem „mörderischen Videospiel des (…)ferngesteuerten Ausschaltens von Menschen, die als Feinde der westlichen Ordnung gelten“, ist den Autoren ausgemachte Sache – obzwar die Bundeswehr in Afghanistan den nachgerade privilegierten Zustand genießt, wenig tun und deshalb wenig falschmachen zu können. Egal: wer beim militärischen Engagement der NATO-Staaten in Afghanistan mitmacht, betreibt „Organisiertes Töten“, ein „Todesspiel“. Was sind dagegen schon all jene, die Selbstmordattentate auf einem belebten Marktplatz in Kunduz oder sonstwo organisieren, durchführen und gutheißen?
Immerhin schreiben die Autoren noch vom „Töten“, nennen die Soldaten nicht gleich Mörder, aber schwingt das nicht mit? Da versteht man, daß Ex-Verteidigungsminister Jung stellvertretend für seine Regierung das Wort „Krieg“ mied. Völkerrechtlich ist es keiner und die Bevölkerung ist für Krieg nicht zu gewinnen. Es ist Rücksicht auf die Soldaten, die Verteidigungsminister zu Guttenberg nun von einem „kriegsähnlichen Zustand“ sprechen läßt.
Das K-Wort bezeichnet hierzulande das schlechthin Schlimmste. Deshalb kennt die öffentliche Debatte nur zwei Alternativen: die Politik des pazifistisch garnierten strikten Sichheraushaltens („wenn wir denen nichts tun, tun die auch uns nichts“), nicht zu verwechseln mit Pazifismus als Werteüberzeugung, und jenes Menschenrechtspathos, mit dem schon die rotgrüne Regierung ihrer Bevölkerung den Kosovo-Einsatz glaubte verkaufen zu müssen.
Dieses Pathos ist nicht mehr glaubhaft – und vor allem muß es sich an der schmutzigen Kriegsrealität messen lassen. Demokratien tun sich mit dem Militärischen schwer; anders als jeder dahergelaufene Diktator können gewählte Regierungen Soldaten nicht ohne triftigen und möglichst eng an die Interessen des Landes gebundenen Anlaß ins Feld schicken. Das ist einer der Gründe dafür, daß auch in Demokratien gelogen und vertuscht wird, daß die Gefährlichkeit des Gegners überhöht und die Folgen des eigenen Tuns kleingeredet werden. Immerhin kehrt man im demokratischen Westen ehrenwerterweise vor allem vor der eigenen Haustür. Doch die Erregung der Öffentlichkeit über ein Fehlverhalten der eigenen Seite läßt wiederum den Zynismus der Gegenseite aus dem Blickfeld geraten. Das kommt dieser entgegen: Irreguläre, nennen wir sie Terroristen oder „Freiheitskämpfer“, bedienen sich der Zivilbevölkerung – als Schutzschild und, funktioniert das nicht, als tote Zeugen der Anklage, was umso besser wirkt, wenn der Westen sein Kriegsziel moralisch hochgerüstet hat.
Insbesondere in Deutschland geht dieses Kalkül auf. Die historische Erinnerung in Kriegsdingen hierzulande ist mit Umweg über Bombennächte im zweiten Weltkrieg beim 30jährigen Krieg angelangt. Das heißt fürs Kriegsbild: wir denken dabei an maximale Verwüstung und Vernichtung der Zivilbevölkerung.
Dieses Kriegsbild macht die Debatte über den Einsatz in Afghanistan so hochemotional. Jeder Ziviltote wird zum Beweis dafür, daß es die militärisch agierenden Staaten genau darauf angelegt hätten. Doch dem ist nicht so. Zivile Opfer sind in einer Lage wie in Afghanistan schwer zu vermeiden, da sie von der Gegenseite gewollt sind – das ist das Kennzeichen eines asymmetrischen Kriegs. Die Frage ist eher, ob man sich einem solchen Feind gegenüber noch an die Regularien des Kriegsvölkerrechts halten kann. Die Unterstellung, daß man es gar nicht beabsichtige, unterschätzt die Bedeutung einhegender Regeln – obwohl man sie doch soeben, in der Debatte um den fatalen Befehl von Oberst Klein, einklagt.
Nun, einigen besonders wortmächtigen „Pazifisten“ merkt man noch die alte Verherrlichung der „Freiheitskämpfer“ aus dem Volk an, dieser tollen Typen, denen gegenüber ein regulärer Soldat als bezahlter Killer gilt. Das meist absichtsvolle Mißverstehen des Terminus „Kollateralschaden“ gehört dazu, ein Begriff, dem unterstellt wird, er verharmlose „die militärischen Verbrechen (...) als belanglose Nebensächlichkeiten“. (Begründung bei der Erklärung zum Unwort des Jahres 1999).
Das trifft nicht zu. „Collateral damage“ heißt im militärischen Sprachgebrauch, daß es als nicht beabsichtigte Nebenwirkung einer militärischen Operation zu zivilen Opfern kam. Keinem Selbstmordattentäter, der seine Sprengladung im vollbesetzten Schulbus zündet, wird man indes unterstellen dürfen, daß er den Tod unbeteiligter Zivilisten nicht beabsichtigt hätte.
Kurzum: die Barbarei unterstellt man in Deutschland eher dem Westen als den angeblichen Opfern seines „Kulturimperialismus“. Das erinnert an einen uralten Konflikt, der schon einmal zu Kriegszeiten von Bedeutung war – an den Konflikt zwischen Kultur und Zivilisation. Den evozierten jüngst deutsche Schriftsteller, die „raus aus Afghanistan“ fordern. Ihre staunenswerte Begründung: „Der Gegner ist keine Armee, sondern eine Kultur.“
Der erste Teil des Satzes ist gewiß richtig. Der zweite ist blanker Unsinn. Der Gegner tritt in Gestalt von irregulären Kämpfern und Terroristen auf, die durch nichts legitimiert sind als durch die Gewalt, die sie ausüben. Was soll daran „Kultur“ sein? Nur im friedlichen Deutschland kann man sich den romantischen Luxus leisten, Clanrivalitäten, Blutfehden und schieren Terror einer Ordnung vorzuziehen, deren Handeln auch in extremis Regeln und der Überprüfung durch eine überaus kritische Öffentlichkeit unterliegt – etwas, das man gemeinhin Zivilisation nennt.
Gewiß – ein Gegner, der sich an Regeln nicht hält, empfindet die völkerrechtliche Selbstbeschränkung als Schwachstelle des Westens. Aber was wäre die Alternative?
Die Selbstbeschränkung des Kriegs durch seine Verrechtlichung verdankt sich dem Selbstinteresse, ihn weiterhin führen zu können. Wer den Frieden will, aber den Krieg nicht denken mag, muß das als äußersten Zynismus empfinden. Doch diesem Selbstinteresse verdanken wir, daß sich die Menschheit in Jahrtausenden kriegerischer Gewalt noch nicht ausgelöscht hat. Krieg bleibt nur möglich, wenn er nicht zur völligen Vernichtung des Gegners führen. Deshalb ist die Selbstverpflichtung regulärer Armeen auf Schonung der Zivilgesellschaft keine fromme Lüge, sondern Grundbedingung: Soldaten kämpfen als Stellvertreter der Gesellschaften, die sie entsenden, damit diese selbst nicht untergehen.
Diese scharfe Differenz zwischen „Kombattanten“ und Zuvilbevölkerung schwindet. Muß man Krieg deshalb ächten? Statt dessen reden und viel Tee trinken miteinander? Sicher – immer vorausgesetzt, die andere Seite sieht das ähnlich. Sonst heißt sein Verbot, jenen, die sich nicht daran halten, einen unschätzbaren Vorteil einzuräumen – und auf jegliche einhegende Regeln zu verzichten. Denn wenn Krieg bereits das Verbrechen ist, gibt es keine Kriegsverbrechen, die zu ahnden wären.
Die moralische Überhöhung des Kriegszwecks hilft aus diesem Dilemma – und schafft ein neues. In der untergegangenen Ära der europäischen Staatenkriege konnte ein Krieg „gerecht“ sein – in dem Sinn, daß jede Seite legitimiert ist, ihre berechtigten Interessen auch mit militärischem Nachdruck zu vertreten. Einen „guten“ Krieg gegen „das Böse“ aber kannte diese Logik nicht – denn solch ein Krieg muß Kampf bis zum Äußersten sein, der mit der völligen Unterwerfung (oder Ausrottung) des Gegners endet. Moralische oder religiöse Aufladung verlängert und entgrenzt also den Krieg. Klar definierte Interessen hingegen, genau das, was heute als moralisch anstößig gilt, haben den Vorzug, daß sie keine letzten Ziele und damit begrenzt sind.
Man spürt noch heute, daß die USA ihr Kriegsbild aus dem amerikanischen Bürgerkrieg beziehen – daher die Aufladung militärischer Aktionen mit höchsten Zielen wie Demokratie, Freiheit, Menschenrecht. Die USA könnten eine Dosis alteuropäischer Nüchternheit womöglich gut gebrauchen – und wir Friedensverwöhnten und „Vulgärpazifisten“ (Thea Dorn) hierzulande ein bißchen mehr Freiheitswille und Empathie.
Aber eben nicht zuviel davon. Dem Völkerrecht und dem konservativen Verständnis von Krieg zufolge ist Krieg nicht dazu da, anderen Völkern eine bessere Staatsform oder eine vernünftigere Kultur nahezubringen. Auch Afghanistan sollte nicht von deutschen Soldaten missioniert werden. Nicht, weil das ein neuer „Kulturimperialismus“ wäre (Jacob Augstein). Sondern weil eine solche Mission Mißbrauch der Soldaten wäre. Sie müssen wissen, welchen Zwecken ihres Landes sie dienen.
Natürlich gibt es Argumente gegen einen Einsatz wie in Afghanistan, dazu muß man nicht Pazifist sein, konservative militärische Bedenken tun es auch. Dort lauten klassischerweise die Leitfragen, bevor man sich auf ein Handgemenge einläßt: kann man die Aktion gewinnen? Und kann das Kriegsziel erreicht werden: haltbare Klarheit zu schaffen? Kann, auf Afghanistan bezogen, die Armee in die Lage versetzt werden, das Gewaltmonopol des Staates zu sichern?
Das sind Fragen weit unterhalb des in demokratischen Öffentlichkeiten erstrebten Moralniveaus. Doch wo es um Leben oder Tod geht, sind sie die wichtigeren. Wer Afghanistan nicht den Taliban überlassen will, muß eine Antwort auf sie geben.
© Cora Stephan 2009, in: FAS vom 6. Dezember 2009