Thomas Petersen / 19.11.2014 / 20:02 / 0 / Seite ausdrucken

Wie Sozialforscher aneinander vorbei forschen

Klopfzeichen aus der Welt der Sozialwissenschaften (47)

Schon einmal habe ich auf die oft etwas verstörende Eigenschaft des Kernphysikers Heinz Maier-Leibnitz (1911-2000) hingewiesen,  scheinbar banale Sätze zu sagen, die sich bei näherer Betrachtung als überhaupt nicht banal erwiesen (http://www.achgut.com/dadgdx/index.php/dadgd/article/klopfzeichen_aus_der_welt_der_sozialwissenschaften_folge_3/). Einer dieser Sätze lautete „Theoretiker und praktische Forscher müssen zusammenarbeiten.“

Natürlich müssen Theoretiker und Praktiker zusammenarbeiten. Wie sollte es denn sonst sein? Doch wer einmal darauf aufmerksam geworden ist, bemerkt, dass eine echte Zusammenarbeit selten ist.

In den frühen Jahren der messenden und beobachtenden Sozialforschung war es selbstverständlich, dass die beteiligten Wissenschaftler auf beiden Gebieten tätig waren: der theoretischen Grundlagen- und der angewandten Forschung. Ein gutes Beispiel ist der Umfragepionier Paul Lazarsfeld (1901-1976). Sein 1931 in Wien begründetes erstes Forschungsinstitut, die „Wirtschaftspsychologische Forschungsstelle“, verwirklichte nicht nur die bis heute berühmte erste Grundlagenstudie über die psychologischen Auswirkungen der Arbeitslosigkeit, sondern auch diverse Marktuntersuchungen.

Ein solches Hin- und Herwechseln zwischen akademischen und nicht-akademischen Tätigkeitsfeldern scheint typisch für die Gründungsphase eines neuen Forschungsgebietes zu sein. Noch haben sich keine akademischen Konventionen herausgebildet, die den Kontakt erschweren würden. Die akademische Welt benötigt die Informationen der angewandten Forschung, um das neue Instrument überhaupt handhaben zu können, die Praktiker benötigen die intellektuelle Anregung aus den Universitäten, um sein ganzes Potential zu erschließen.

Doch dann kommt irgendwann der Punkt, an dem die akademische und die angewandte Forschungswelt beginnen, auseinanderzudriften. Beide entwickeln unterschiedliche Prioritäten und Konventionen, regelrecht verschiedene Sprachen. Heute findet die in großen Teilen der akademischen Welt organisierte Umfrageforschung meist wie losgelöst von den über Jahrzehnte angesammelten praktischen Erfahrungen der angewandten Forschung statt. Das ist besonders dann der Fall, wenn der Forscher zwar die Studie konzipiert, die als lästig und wissenschaftlich unattraktiv empfundene Feldarbeit dann einer fremden Organisation überlässt und auf diese Weise von den Folgen, die seine Konzeption unter den Bedingungen der Wirklichkeit hat, abgeschnitten wird.

Weist dann der Praktiker den Theoretiker beispielsweise auf Mängel im Fragebogen hin, wird dies meist mit dem Argument abgetan, die betreffende Methode sei in der Fachliteratur anerkannt und könne aus übergeordneten wissenschaftlichen Gründen nicht verändert werden. Wenn dann das durchführende Institut in der Feldar¬beit auf die folgerichtig eintretenden massiven Probleme stößt, gerät es in eine Zwickmühle: Teilt es dem Wissenschaftler mit, dass der Fragebogen den Bedingungen der Realität nicht standhält, kann es nicht auf Verständnis hof¬fen und muss um künftige Anschlussaufträge fürchten.

Ich werde nie den Soziologieprofessor vergessen, der mir einen endlos langen, ungeheuer komplizierten und abstrakten Fragebogen präsentierte, und erklärte, dieser Fragebogen sei bereits erprobt und bei Telefonumfragen problemlos zum Einsatz gekommen. Hätte er nur einen einzigen Versuch unternommen, selbst einen fremden Menschen anzurufen und mit diesem Fragebogen ein Interview zu machen, hätte er gemerkt, dass dies schlechterdings unmöglich war, doch auf den Gedanken kam der Professor nicht.

Umgekehrt braucht die privatwirtschaftliche Umfrageforschung mehr denn je die intellektuelle Kraft der Universitäten, wenn sie nicht zu einem rein technischen Dienstleister herabsinken will. Die intellektuelle Dürftigkeit vieler Untersuchungen der angewandten Forschung spricht Bände.

Wohin es führt, wenn der Gesprächsfaden zwischen Theoretikern und Praktikern reißt, hat einmal Elisabeth Noelle-Neumann, die Gründerin des Instituts für Demoskopie Allensbach, in einem Bericht über eine sozialwissenschaftliche Tagung im Jahr 1951 lebhaft beschrieben. Sie hatte eine Sitzung geleitet, in der Praktiker der Umfrageforschung methodische Erkenntnisse präsentierten. Über die anschließende Diskussion schrieb sie Jahrzehnte später: „Etwa in der Mitte der Diskussion entglitt mir die Leitung der Sitzung. Einer der anwesenden Statistiker warf das Stichwort ‚Schweinezyklus’ in die Diskussion und vertrat dazu eine Theorie, an die ich mich nicht erinnere. Es zeigte sich aber schnell, dass er einen Fehdehandschuh in den Raum geworfen hatte. Wutentbrannt fiel ein anderer Statistiker über den ersten her, ein dritter rief dazwischen, ein vierter mischte sich ein, alle natürlich, ohne dass ich ihnen das Wort erteilt hatte. Es herrschte ein heilloses Durcheinander, und ich vermochte nicht, die Ordnung wiederherzustellen (...). Im Tagungsbericht heißt es über das Ende dieser Sitzung: ‚Nachdem noch einzelne technisch-statistische Fragen besprochen worden waren, musste die Diskussion wegen der fortgeschrittenen Zeit abgebrochen werden.’“

Die Geschichte ist nicht nur unterhaltsam, sondern auch aufschlussreich: Der Streit der Statistiker hatte kaum etwas mit den Ausführungen der Praktiker auf dem Podium zu tun. Diese boten anscheinend nur den willkommenen Anlass zu einer Auseinandersetzung, die wiederum für die Umfrageforscher uninteressant war. Elisabeth Noelle-Neumann konnte sich Jahre später nicht mehr an deren konkreten Inhalt erinnern. Er erschien ihr offensichtlich irrelevant. Beide Seiten redeten vollkommen aneinander vorbei. Wenn sich aber Theoretiker und Praktiker nicht mehr gegenseitig zuhören, weil sie sich gegenseitig nicht mehr verstehen, können sie auch nicht mehr, wie in den Gründerjahren, voneinander profitieren.

 

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