Hinter jeder Ecke lauert die Banalität
Kürzlich wies mich ein Leser der „Achse des Guten“ auf ein im Deutschlandfunk gesendetes „Kulturgespräch“ zum Thema „Gehen“ hin. Über 40 Minuten lang unterhielten sich zwei Kulturwissenschaftler und die Moderatorin über philosophische Aspekte und die Kulturgeschichte des Gehens. „Fast jeder Satz“, schrieb mir der Leser, „grenzt an akademisch verbrämte Vollidiotie.“
Das mag ein wenig übertrieben sein, ich finde zumindest durchaus, dass in der Diskussion auch interessante Aspekte zur Sprache kommen. Dennoch kommt man, je länger man zuhört, kaum darum herum, ihm im Prinzip Recht zu geben. In den Diskussionsbeiträgen wimmelt es nur so von Banalitäten und unfreiwillig komischem Tiefenkitsch. Man erfährt so erstaunliche Dinge wie die Tatsache, dass sich in früheren Jahrhunderten nur reiche Menschen eine Kutsche leisten konnten und dass Menschen, die gehen, oft auch etwas dabei tragen. Hilfreich ist sicherlich auch die Klarstellung, dass der Mensch kein Baum ist. Man erfährt außerdem von der Existenz der „Spaziergangswissenschaft“ oder - was viel schöner klingt - „Promenadologie“, die sich über so schöne Dinge Gedanken macht wie den Einfluss des Gehens auf die Philosophie. Und natürlich darf auch ein Beitrag zur Weltverbesserung nicht fehlen: Durch das Gehen, so lernt man, könne man ausdrücken, dass man sich für ein demokratisches Miteinander einsetzt. Wieso eigentlich?
Angesichts solcher Stilblüten ist es verständlich, dass der Leser von einem Beispiel für Wissenschaft als „gut bezahlter Selbstbefriedigung“ spricht - aber eben hier droht ein Missverständnis, denn grundsätzlich ist es nicht etwa ein Missstand, wenn Wissenschaft gut bezahlte Selbstbefriedigung ist, sondern im Gegenteil ein erstrebenswerter Zustand.
In der Bevölkerung - und leider zunehmend auch in der Politik - herrscht die Vorstellung vor, dass Forschung nur dann der Gesellschaft dient und damit förderungswürdig ist, wenn sie von vornherein erkennbar in eine praktische Anwendung mündet. Am liebsten hätte sie, dass man vorher weiß, was am Ende des Forschungsprozesses herauskommt. Doch warum sollte man dann überhaupt noch forschen? Dass jemand den Entschluss fasst: „Ich erfinde jetzt das Telefon“ gibt es nur im Comic.
Nicht umsonst werden im Grundgesetz (Artikel 5, Paragraph 3) Kunst und Wissenschaft in einem Atemzug genannt, denn tatsächlich haben sie mehr miteinander gemeinsam als oft angenommen wird. Es dürfte den meisten Menschen einleuchten, dass sich die Kunst nur entfalten kann, wenn die Künstler in ihrem Schaffen vollkommen frei sind und nicht ständig erläutern müssen, inwiefern ihre Tätigkeit einen unmittelbar messbaren Nutzen für das Gemeinwesen hat. Das gleiche gilt auch für die Wissenschaft, doch seltsamerweise neigt die Gesellschaft dazu, dem Forscher zu verwehren, was sie dem Künstler selbstverständlich zugesteht.
Man braucht sich nur ein wenig mit der Wissenschaftsgeschichte zu befassen um zu erkennen, dass die großen Entdeckungen meist nicht von planvoll handelnden, zielstrebig auf gesellschaftlichen Nutzen ausgerichteten Ingenieuren der Forschung gemacht werden, sondern von Besessenen, die es nicht lassen können, Tag und Nacht mit ihren Reagenzgläsern zu hantieren, mit Pechblende zu spielen oder seltsame funkensprühende Apparate zu basteln. Fragt man sie, warum sie das tun, können sie meist keine vernünftige Antwort geben. Sie können nicht anders. Sie üben die Tätigkeit um ihrer selbst willen aus - Selbstbefriedigung.
Die Gesellschaft tut gut daran, diese Selbstbefriedigung gut zu bezahlen. Natürlich gibt es unter 10.000 Wissenschaftlern 5.000 Blender und nur einen großen Entdecker, so, wie es auch unter 10.000 Malern 5.000 Blender und nur einen van Gogh gibt. Aber niemand kann vorhersehen, welcher der 10.000 den großen Fund macht. Auch die Themenwahl der Forschung muss frei sein. Es erwartet vermutlich niemand von der „Spaziergangswissenschaft“, dass sie etwas Bahnbrechendes für die Gesellschaft erarbeitet. Aber wer weiß? Und letztlich ist die Wertschätzung intellektueller Beschäftigungen ohnehin Konvention. Wahrscheinlich ist die „Spaziergangswissenschaft“ nutzlos. Aber unterscheidet sie sich darin wirklich von Literaturwissenschaft, Archäologie oder Byzantinistik?
Was schließlich die Banalität betrifft, so sollte man mit Hochmut vorsichtig sein. Zum einen ist intuitives Fürwahrhalten nicht gleichzusetzen mit Wissen. Die Medienwirkungsforschung hat ein halbes Jahrhundert gebraucht, um die Banalität nachzuweisen, dass Massenmedien die Bevölkerungsmeinung beeinflussen. Der Beweis war notwendig, weil die Medienwirkung von den Medienvertretern solange einfach abgestritten wurde, bis sie nicht mehr wegzudiskutieren war.
Und zweitens lauert die Banalität in der Forschung hinter jeder Ecke. Es ist ungeheuer schwer, etwas wirklich Neues, Überraschendes zutage zu fördern. Oft führen auch die aufwendigsten Untersuchungen zu Ergebnissen, bei denen man ehrlicherweise sagen muss: „Das war mir eigentlich schon vorher klar.“ Diesem Schicksal entgeht kein Forscher, auch nicht in der angewandten Forschung. Vor Jahren las ich den Untersuchungsbericht eines sehr klugen und erfahrenen Kollegen über den Waschmittelmarkt. Mit aufwendigen Analysen hatte er die Entwicklung des Marktes durchleuchtet und schließlich mit den Worten zusammengefasst: „Der Zuwachs bei Persil und der Rückgang bei Ariel sind zurückzuführen auf gestiegene Treue zu Persil und gesunkene Treue zu Ariel.“