Zehn Jahre
Schon einmal habe ich an dieser Stelle über die Chronistenpflicht der Umfrageforschung geschrieben, doch angesichts des zehnjährigen Jubiläums der „Achse des Guten“ lohnt es sich, noch einmal auf dieses Thema einzugehen. Zehn Jahre sind viel für ein Internetblog, aber in einem Menschenleben scheinen sie nicht besonders lang zu sein. 2004, das war doch gerade gestern, und das Leben war damals doch auch nicht wesentlich anders als heute.
Doch stimmt das? 2004 hieß der Bundeskanzler Gerhard Schröder, der französische Staatspräsident hieß Jacques Chirac. Der russische Präsident war, wie heute, Wladimir Putin. Gemeinsam versuchten die drei den amerikanischen Präsidenten George W. Bush zu überzeugen, sich an die Regeln des Völkerrechts zu halten. Man sprach von einer „Achse Paris-Berlin-Moskau“.
Nach den Ergebnissen der „Allensbacher Markt- und Werbeträger-Analyse 2004“, einer großen Umfrage zu Lese- und Konsumgewohnheiten, besaßen vor zehn Jahren 53 Prozent der Deutschen einen analogen Fotoapparat, gerade 17 Prozent einen digitalen. 45 Prozent der Bevölkerung hatten einen Computer im Haushalt, 56 Prozent nutzten zumindest gelegentlich einen Rechner, wenn nicht zuhause, dann im Büro. 46 Prozent der Deutschen nutzten das Internet, 39 Prozent verschickten manchmal Emails. 17 Prozent wickelten Bankgeschäfte über das Internet ab. Nach Blogs und Foren wurde nicht gefragt, sie waren den meisten Deutschen unbekannt. In Chatrooms waren neun Prozent der Deutschen unterwegs.
39 Prozent der Autos der Deutschen verfügten über elektrische Fensterheber, 31 Prozent hatten eine Zentralverriegelung mit Funkbedienung, 39 Prozent einen Airbag und 27 Prozent eine Klimaanlage.
Die gesellschaftspolitischen Umfragen des Allensbacher Instituts aus dem Jahr 2004 weisen aus, dass 29 Prozent der Bevölkerung dem folgenden Jahr mit Hoffnungen entgegensahen - 2013 waren es 47 Prozent -, 77 Prozent meinten, die Verhältnisse in Deutschland böten Anlass zur Beunruhigung, 2013 waren es 44 Prozent.
68 Prozent der Deutschen hatten von den Plänen gehört, aus PDS und WASG eine neue Linkspartei zu gründen. 35 Prozent begrüßten diesen Plan, 55 Prozent fanden das Programm der Partei attraktiv, wenn man ihnen dessen Herkunft verschwieg.
Die beliebtesten Politiker waren Joschka Fischer (58 Prozent Zustimmung), Otto Schily (38 Prozent) und Horst Seehofer (30 Prozent). Angela Merkel rangierte mit 29 Prozent im Mittelfeld, Gerhard Schröder mit 23 Prozent am unteren Ende der Beliebtheitsskala. Bei einer Direktwahl hätten sich aber 38 Prozent für Schröder und nur 25 Prozent für Merkel entschieden.
41 Prozent der Bevölkerung sprachen sich für ein neues Ladenschlussgesetz aus, das es erlauben würde, die Geschäfte an Werktagen auch nach 20 Uhr zu öffnen.
Je mehr man in die Details des Lebens von vor zehn Jahren eindringt, umso mehr erkennt man, dass man es mit einer fast schon fremden Welt zu tun hat. Natürlich haben sich die grundsätzlichen Lebensbedingungen in Deutschland in den vergangenen zehn Jahren nicht grundlegend verändert: Das staatliche System ist noch immer dasselbe, die meisten Menschen wohnen noch immer dort, wo sie auch vor zehn Jahren schon gewohnt haben. Sie genießen einen vergleichbaren Wohlstand, und ihr Wohnort sieht alles in allem auch noch so aus wie vor zehn Jahren.
Doch im Detail hat sich ungeheuer viel verändert, ohne dass es den meisten Menschen bewusst ist, denn der Wandel vollzieht sich schleichend: Hier tritt ein Politiker zurück, dort wird ein Geschäft geschlossen, da ein neues Haus gebaut. Das sind für sich genommen alles keine gravierenden Dinge, doch sie summieren sich, und nach zehn Jahren befindet man sich in einer vollkommen veränderten Welt, ohne es zu merken. Es ist eine typische menschliche Eigenschaft, rasch zu vergessen, was nicht wirklich wichtig erscheint. Und bei den Dingen, die von Bedeutung sind, neigen viele dazu, die Erinnerung an die Gegenwart anzupassen. Was wir für unser Gedächtnis halten, ist in Wahrheit eine Projektion der Vergangenheit aus heutiger Sicht.
Der Historiker Michael Wolffsohn erzählte einmal von einem Erlebnis, das in diesem Zusammenhang aufschlussreich ist. Er hatte einen Vortrag über bestimmte Vorgänge in der Zeitgeschichte gehalten. In der folgenden Fragerunde meldete sich eine ältere Dame zu Wort und hielt ihm vor, seine Darstellung der Ereignisse sei vollkommen falsch. Sie müsse es wissen, denn sie sei selbst dabei gewesen. Wolffsohn bat sie daraufhin, ihren Namen zu nennen. Nachdem sie das getan hatte, musste er ihr sagen, dass er sie aus den Quellen kannte und ihre sämtlichen Aufzeichnungen aus der betreffenden Zeit gelesen hatte. Darin stand das Gegenteil dessen, was sie nun, viele Jahrzehnte später, glaubte.
Dieses Phänomen zeigt sich auch in den Sozialwissenschaften. Ein besonders schönes Instrument der Umfrageforschung ist die Panel-Befragung. Dabei werden über einen längeren Zeitverlauf hinweg immer dieselben Personen befragt. Auf diese Weise lassen sich die Motive von Meinungswechseln analysieren. Wenn vor einem Jahr 40 Prozent der Bevölkerung die CDU wählen wollten, und heute sind es ebenfalls 40 Prozent, bedeutet das nicht, dass keine Bewegung in der Wählerschaft stattgefunden hat. Tatsächlich haben sich viele ehemalige Anhänger der CDU von ihr abgewandt, andere sind zugewandert. Nur in der Summe ist keine Bewegung festzustellen, weil die Zahl der Zu- und Abwanderer gleich ist. Will man also die Motive eines Meinungswechsels erforschen, muss man die Befragten mit Umfragen gleichsam verfolgen: 2012 wollte jemand noch CDU wählen, 2013 ebenfalls. 2014 sagt er plötzlich, er wolle die SPD wählen. Warum? Hat sich sein Blick auf die Politik verändert? Oder das Bild der politischen Programme? Oder seine Meinung zum politischen Personal? Oder hat sich sonst etwas in seinem Leben verändert? Das ist die Logik von Panel-Analysen.
In eine solche Panel-Studie wurde vor einigen Jahren auch die Frage aufgenommen, welche Partei man denn bei der vorangegangenen Bundestagswahl gewählt habe. Man sollte meinen, dass das etwas ist, worüber die Menschen klare Auskunft geben könnten. Doch die Umfrage zeigte ein anderes Bild: In der ersten Befragung sagte eine Mehrheit derjenigen, die im kommenden halben Jahr ihre Wahlabsicht ändern würden, sie hätten beim letzten Mal dieselbe Partei gewählt, die sie auch zum Zeitpunkt der Befragung wählen wollten, und der sie, was sie natürlich noch nicht wussten, in den nächsten Monaten untreu werden würden. Als die Interviewer ein knappes halbes Jahr später zurückkehrten, hatten die Befragten ihre Wahlabsicht geändert. Als man sie nun fragte, welche Partei sie bei der vorangegangenen Bundestagswahl gewählt hatten (dieselbe Wahl, von der auch schon ein halbes Jahr vorher die Rede war), antworteten die meisten, es sei dieselbe Partei, die sie nun, nach dem Meinungswechsel, auch wählen wollten. Mit anderen Worten: Die Erinnerung folgte dem Meinungswechsel: Man ändert seine Meinung - und danach glaubt man, man habe schon immer so gedacht.
Das bedeutet: Die Umfrageforschung weiß am Ende besser als die Befragten selbst, was sie zu einem bestimmten Zeitpunkt gedacht und gefühlt haben. Sie ist ein Chronist, der den Zeitgeist der Gegenwart festhalten und dokumentieren muss, denn rückblickend lässt er sich ohne sie nicht mehr rekonstruieren.