Klopfzeichen aus der Welt der Sozialwissenschaften (49)
Zur Jahreswende gibt es am Institut für Demoskopie Allensbach einen guten alten Brauch: In der letzten Bevölkerungsumfrage des Jahres wird die Frage gestellt „Sehen Sie dem kommenden Jahr mit Hoffnungen oder Befürchtungen entgegen?“ Das Ergebnis wird zusammen mit den Ergebnissen der früheren Jahre als Trendgrafik auf eine Karte gedruckt, die dann den Auftraggebern und Freunden des Instituts als Neujahrsgruß zugeschickt wird.
So geht das nun schon seit 1949. Jedes Jahr wird die Grafik etwas länger. Inzwischen muss man die Karte schon auf zwei Seiten aufklappen, um sie vollständig zu überblicken. Irgendwann, in nicht allzu ferner Zukunft, wird sie das Länge-Breite-Verhältnis von Melchior Lorichs’ Elbkarte (http://de.wikipedia.org/wiki/Elbkarte) und schließlich des Teppichs von Bayeux (http://de.wikipedia.org/wiki/Teppich_von_Bayeux) annehmen.
Das Ganze war eine harmlose Spielerei bis zu dem Tag im Jahr 1979, an dem der Karlsruher Informatikprofessor Karl Steinbuch feststellte, dass sich aus den Antworten der Deutschen auf die Frage “Sehen Sie dem kommenden Jahr mit Hoffnungen oder Befürchtungen entgegen?” eine Konjunkturprognose für das kommende Jahr errechnen ließ, die zuverlässiger war als die Gutachten der fünf Weisen.
Dieser Befund hat sich seitdem immer wieder bestätigt. Der Anteil derer, die auf die Frage antworten: „Mit Hoffnungen“, schwankt auffällig parallel zur Wirtschaftsentwicklung des folgenden Jahres. Der Hamburger Wirtschaftswissenschaftler Birger Antholz hat einmal in einer sehr aufwendigen Untersuchung die Treffsicherheit von Konjunkturprognosen aus den verschiedensten Quellen über einen langen Zeitraum hinweg analysiert und sie mit dem verglichen, was der die „naive Fortschreibung“ nannte. Damit meinte er, dass man einfach das Wirtschaftswachstum des ausgehenden Jahres als Prognose für das kommende verwendet. Das Ergebnis: Allein die scheinbar banale Frage „Sehen Sie dem kommenden Jahr mit Hoffnungen oder Befürchtungen entgegen?“ schnitt auf lange Sicht besser ab als die „naive Fortschreibung.“
Dieses Ergebnis ist auch deswegen bemerkenswert, weil in der Frageformulierung vom Thema Wirtschaft gar nicht die Rede ist. Die Frage ist bewusst vage gehalten, versucht ein eher unspezifisches Lebensgefühl einzufangen. Für den Fall, dass ein Befragter um eine Erläuterung des Zwecks der Frage bittet: „Meinen Sie das allgemein oder persönlich?“ sind die Interviewer angewiesen zu antworten: „Je nachdem, was Sie am meisten beschäftigt.“ Warum sagen die Antworten auf diese Frage trotzdem etwas über die Wirtschaft aus?
Offenbar verfügt die Bevölkerung über eine bemerkenswert präzise Witterung, ein Gespür, das sie die zukünftige Entwicklung vorausahnen lässt, ohne, dass ihr das selbst bewusst ist. Diese Witterung ist anscheinend so präzise, dass sie auch durch sehr komplizierte und fundierte volkswirtschaftlichen Analysen nicht ersetzt oder gar übertroffen werden könnte. Es gibt auch keine befriedigende Erklärung für das Phänomen, es sei denn, man gibt sich mit Ludwig Erhards Bonmot zufrieden, wonach Wirtschaft zu 50 Prozent Psychologie sei. Die seltsam prophetischen Fähigkeiten der Bevölkerung haben mit Vernunft, Kenntnissen oder einer sachlichen Analyse nichts zu tun. Die das Thema scheinbar viel präziser erfassende Frage „Glauben Sie, dass es mit unserer Wirtschaft in den nächsten sechs Monaten bergauf oder bergab geht?“ ist folgerichtig für Konjunkturprognosen auch vollkommen ungeeignet.
Wem das alles etwas obskur erscheint, den beruhigt vielleicht die Tatsache, dass sich die prophetische Kraft der Bevölkerung nicht nur in der Frage nach den Hoffnungen für das neue Jahr zeigt. Es gibt eine Reihe von Befunden aus anderen Wissenschaftsfeldern, die in die gleiche Richtung deuten. So zeigen beispielsweise Untersuchungen der Musik-Hitlisten erstaunliche Muster: Stehen an der Spitze Titel mit optimistischem Text, ist dies ein zuverlässiger Hinweis auf einen bevorstehenden Wirtschaftsaufschwung. Umgekehrt kündigen pessimistische Titel eine Rezession an. Und der Germanist und ehemalige Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft Wolfgang Frühwald beschrieb vor vielen Jahren einmal in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, welche Schlüsse man aus der Themenwahl der Literatur über die nähere Zukunft ziehen kann.
Umfrageforscher wundern sich über solche Ergebnisse gar nicht, denn sie sind an die Erscheinungsformen des charakteristischen Eigenlebens der Gesellschaft, das sich aus tausenden Reaktionsmustern Einzelner ergibt, gewöhnt. Es klingt wie der Widerspruch in sich, ist aber nicht von der Hand zu weisen: Neben der persönlichen Individualität jedes Einzelnen gibt es auch so etwas wie eine „Individualität“ der Gesamtgesellschaft, die erstaunliche Eigenschaften und Fähigkeiten aufweist und eigenen Gesetzen folgt, die über den Handlungsweisen der jeweils einzelnen Mitglieder der Gesellschaft steht, obwohl sie sich aus ihnen speist. Ich weiß: Das klingt alles etwas verschroben, aber es lohnt sich, ein wenig darüber nachzudenken, und die Vorweihnachtszeit ist ja eine gute Zeit dazu.
Wo ist nun die in der Überschrift angekündigte frohe Botschaft? Hier kommt sie: Die endgültigen Zahlen liegen zwar noch nicht vor, aber es zeichnet sich ab, dass in diesem Jahr der Anteil derjenigen, die sagen, sie sehen dem kommenden Jahr mit Hoffnungen entgegen, nur minimal geringer sein wird als im vergangenen Jahr, und damals lag er auf einem hohen Niveau. Das bedeutet, dass einiges dafür spricht, dass das Jahr 2015 wirtschaftlich und damit - was oft vergessen wird - auch in sozialer Hinsicht ein gutes Jahr für Deutschland werden wird. Wenn das angesichts der derzeitigen geopolitischen Lage keine frohe Botschaft ist!
Ich wünsche allen Lesern der „Achse des Guten“ ein schönes Weihnachtsfest und ein von erfüllten Hoffnungen geprägtes Jahr 2015.