Dass die Zeit, in der wir leben, uns eher paradox erscheint als interessant, wird kaum jemanden in Erstaunen versetzen. Gelegentlich versucht man sich mit dem Biedermeiervergleich auszuhelfen. Das trifft den Sachverhalt, aber, wie stets bei Vergleichen, nicht ganz. Die Geschichte wiederholt sich ja nicht einfach nur, sie übertrifft sich bisweilen selbst.
Der große Unterschied zum historischen Biedermeier besteht wohl darin, dass wir unserer Biederkeit, den Rahmen einer Apokalypse verpasst haben. Wir amüsieren uns zwar nicht zu Tode, aber wir sind mit allen möglichen Bildern des Untergangs gut versorgt. Wo wir auch stehen und gehen, im nächsten Augenblick kann sich schon der Abgrund auftun. Jedenfalls suggeriert man uns das öffentlich in anschaulichen Bildern.
Die Begleitmusik unseres Biedermeiers ist der Techno. Es ist der Ton, der über den Abgrund führt, die Musik, zu der Jesus auf dem Wasser gehen konnte. Hier verschwimmen Tag und Nacht, und das Leben ist wieder einmal ein Traum, den sich diesmal, wie es heißt, jeder leisten kann. Solange er im angesagten Club reinkommt, darf er sich zu den Schlafwandlern rechnen.
Man lebt in einer hübsch eingerichteten Welt, in der selbst die Innenarchitektur sich als angewandte Philosophie versteht, und die Botschaft trotzdem das Sitzkissen ist. Zum großen Konsens unserer Zeit gehört die Erkenntnis, dass die Langeweile unvermeidlich sei. Die Aufgabe der Kultur aber ist es, diese Langeweile zu überbrücken. Sie zu überbauen.
Damit ist Entertainment angesagt. Entertainment ist schließlich nichts anderes als formatierte Langeweile. Alles braucht seine Form, und alle Formen brauchen ihre Moderation. Das Geniale an unserer Gesellschaftsordnung ist die Zusammenlegung von Form und Moderation. So kommt alles als Fertiggericht auf einen zu, und gleichzeitig gibt man uns die Illusion, an allem zu partizipieren.
Wir haben zwar weder etwas zu sagen, noch etwas zu melden, aber wir sind immer und überall dabei. Gleichzeitig sind die Newsletter in unserer Mailbox voller Gefahrenmeldungen. Auch die Wissenschaft hat längst ihre neue Rolle erkannt. Sie informiert uns darüber, wo der Sitz der Religion im Hirn sein könnte, und verrät uns, dass bei Migräne Herzinfarktgefahr bestünde.
Wollten Sie das wissen? Nein? Ich auch nicht. Trotzdem nehmen wir diese Art Neuigkeiten zur Kenntnis. Schließlich werden sie von den Medien zum Thema verklärt, und wer möchte nicht beim Weltuntergang mitreden können? Normalerweise gibt es dazu nicht viele Gelegenheiten. Bei etwas Glück kann man vielleicht zweimal im Leben einen Meteoriten seine Bahn ziehen sehen, oder eine Sonnenfinsternis beobachten.
Was man uns heute zu bieten hat, ist quasi die künstliche Sonnenfinsternis. Was uns aber immer mehr entgleitet, und das ist letzten Endes ausschlaggebend, ist die Wahrheit über das, was (mit uns) geschieht. Dazu gehört, dass wir in einem Land leben, in dem mittlerweile ein U-Bahn-Bau scheitert.
Vom Kölner Klüngel pflegte man stets liebevoll zu sprechen, tobte er sich doch eher in der Vergabekorruption aus, und ein bisschen antipreußisch wirkte er auch. Aber jetzt, wenn, wie wohl geschehen, Materialien nicht verbaut wurden, weil man sie weiterverkaufte, ist Schluss mit dem Biedermeier, und auch mit dem Vergnügen an der großen Gruselsuggestionsunternehmung. Die unmissverständliche Botschaft lautet: Der Klüngel ist kriminell geworden.
Plötzlich ist die Musik weg. Die Ohren rebellieren gegen die Stille. Es ist im Club der Augenblick der Grausamkeit. Du bist auf der Titanic und jemand reicht dir ein Hartz-IV-Formular, mit einem Gestus, als sei es das Papier, in das Jesus eigenhändig die Fische eingewickelt hat.
Nein, dieses Leben ist nicht ein Traum. Und der Satz ist auch nicht von Helene Hegemann. Und darum geht es auch nicht. Die Frage ist vielmehr: Wie kommen wir aus diesem Club wieder raus?