Die „Freien Wähler“ haben Konjunktur. In Bayern regieren sie seit 2018 mit. Das wollen ihre Freunde 2019 in Sachsen auch zuwege bringen. „Das schaffen wir!“ – der Grundtenor von Hubert Aiwanger in Bayern, Matthias Berger, Matthias Schmiedel und vielen anderen in Sachsen unter professioneller Koordinierung von Antje Hermenau.
Im Moment haben sie eindeutig mediale Konjunktur. „Brüllaffen“ bieten sie kein Podium. Im Benennen von Schwachstellen sind sie dennoch nicht zimperlich. Das scheint anzukommen. Die Konkurrenz schaut wie das Kaninchen auf die Schlange. Die „Freien Wähler“ erzielen zunehmend Sogwirkung. Am letzten Samstag haben sie sich in Grimma vorgestellt, und ich habe mir das angeschaut. Prominenter Gast war Hubert Aiwanger, der bayerische Vizeregierungschef.
Mein erster Eindruck: Es sind allesamt Profis, erfahren in Kommunal- und Landespolitik, und sie kennen sämtliche Stellschrauben und Bremsen der Bürokratie. Sie wollen aber Gas geben und wüssten auch wie. Man müsste sie nur lassen. Ihr Selbstbild: „Nicht gegen alle, sondern mit allen für alle“! Die „Freien Wähler“ könnten beispielsweise vom allgemeinen Verdruss profitieren, vom Gefühl eines unbestimmten Heimatverlustes, auch vom Aderlass der ehemals großen Parteien.
Heimatangebot für politische Vertriebene?
Sie sehen sich als „Mutbürger“, die nicht protestieren, sondern anpacken wollen. Damit werden sie mehr in der Mitte als an den Rändern wildern. Union, SPD und FDP sollten sich warm anziehen. Die übliche Anti-Rechts-Masche dürfte jedenfalls in Bezug auf die Freien Wähler beim Wahlvolk noch weniger verfangen als bei der AfD. Die etablierten Parteien wären gut beraten, wenn sie es gar nicht erst versuchten.
Heimatverlust findet auf verschiedenen Ebenen statt. Politisch verloren Millionen Wähler von Kabinett Merkel I bis IV ihre bisherigen politischen Adressaten. Kaum ein Unions-, fast kein SPD- oder FDP-Wähler weiß noch, warum er seine bisherige Partei noch wählen soll. Stimmbürger und Mandatsträger sind sich fremd geworden. Große Teile des Wahlvolkes fühlen sich politisch heimatlos, manche sogar als politisch Vertriebene, vertrieben zur AfD.
Mit dem politischen Heimatverlust geht oft ein regionaler einher. Aiwanger: „Die Landkreise sind inzwischen groß wie manche Länder früher. Zurück zu den Menschen!“ Ein technokratisches Monstrum wie „Mitteldeutschland“, zusammengesetzt aus Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt, dürfte mit den „Freien Wählern“ wenig Chancen haben. „Von unten!“ heißt das bei Aiwanger. Und bei Berger. Vom „Sachsen-Bashing“ halten sie nichts. Im Gegenteil die „Freien Wähler“ reden von ihrer freistaatlichen „Südschiene Sachsen-Thüringen-Bayern“. Heimat.
Strahlkraft des bayerischen Vorbilds
Alle „Freien Wähler“ wollen vom Erfolg in Bayern profitieren. Mit der CSU ein wunderschönes und funktionierendes Bundesland in widrigen Zeiten auf Kurs halten, das nötigt auch außerhalb Bayerns Hochachtung ab. „Gaga-Themen wie ‚Wolfserwartungsland‘“ sind mit den Jägern Aiwanger und Berger nicht zu bespielen. Die auf Bodenständigkeit ausgerichteten „Macher“ würden Wert auf „starke Städte im starken Umland“, auf das Funktionieren von Polizei, Feuerwehr, Medizinischer-/Energie- und Wasser-Versorgung in kommunalen Händen und auf traditionelle Familienstrukturen legen.
Programmatisch konzentrieren sich die „Freien Wähler“ auf die Klein- und Mittelständischen Unternehmer, die die Masse der Arbeitsplätze bieten und die in der Regel soziale Verantwortung zeigen. Die „Freien Wähler“ bekennen sich zudem klar zur Wiedereinführung der Meisterpflicht.
Die „Kontrollwut“ der Behörden bis nach Brüssel wirke desaströs und behindert Freiheit und Wohlergehen. „Wirtshäuser, Bäcker, Handwerker“ würden ausgebremst. Zur Zuwanderungsdebatte wird Aiwanger zitiert: „Jede/r der kommt, ist nicht per se gut! Wer nicht gut ist, muss raus! Nicht nur kann, sondern er/sie muss raus!“ Über den Islam mag Hubert Aiwanger nicht diskutieren.
Ausdünnung und Verstärkung
Die „Freien Wähler“ sehen sich als Sammlungsbewegung von Leuten mit abgeschlossener Ausbildung und Praxis. Erfahrene Fachleute sind nach ihrem Verständnis zum Kompromiss in der Lage. Für die Studienabbrecherparteien CDU, SPD, Grüne, Linke ist damit zusätzliche wünschenswerte Gefahr im Verzug. Union und SPD geben seit geraumer Zeit in sich steigerndem Maße gutes Personal und damit Kapazitäten an die „Freien Wähler“ ab.
Hier die Ausdünnung – da die Verstärkung. Gerade ging mit André Soudah der bisherige Vorsitzende des mitgliederstärksten sächsischen SPD-Ortsvereins Leipzig-Mitte ins Lager der „Freien“, kurz vor ihm tat dies Holger Preische aus dem Rödertal mit vier weiteren Sozialdemokraten. Die Geschäftsführerin der sächsischen „Freien Wähler“ ist mit Antje Hermenau eine Ex-Grüne mit inzwischen bundesweiter Bekanntheit. Seit 15 Jahren gehört auch der vormalige Colditzer Bürgermeister Matthias Schmiedel dazu, der nach 1989 als Sozialdemokrat startete.
Der Charme der vielen Positionen
Noch geht das: In jeder Kommune, in jedem Landkreis, in jedem Bundesland eine unterschiedliche Position. Mit zunehmender Verantwortung dürfte das Modell an die Wand fahren. Mit jeder neu erkletterten politischen Ebene steigt der Positionsabgleichzwang, steigt die Vergleichsgefahr. Für Bayern postuliert Hubert Aiwanger den netten Slogan „Die Sonne schickt keine Rechnung“ und meint damit den forcierten Ausbau von Photovoltaik- und Windkraftanlagen. Das mag in Bayern mit noch relativ sorgloser Sicht auf die Grundlastnotwendigkeit der Netze keine Rolle spielen. In Sachsen mit seiner in Grundlastprozessen verständiger denkenden Bevölkerung käme er da nicht weit. Auch ist Sachsen schon jetzt verspargelt genug. Die bayerischen „Freien Wähler“ scheinen ordentlich „Grün“ zu sein. Was in Sachsen keine wirklich dolle Offerte ist.
Womit möglicherweise dem „Freien Wähler Aufbruch“ natürliche Grenzen gesetzt scheinen. Die Verlockung „Energiewende ja – aber nicht gegen die Bürger – die Bürger mitverdienen lassen“ (Aiwanger) bedarf damit einer sächsischen Variante. „Wer nur rechts und links kennt, macht keinen Schritt nach vorn“ – Das Grundverständnis der „Freien Wähler“ kommt dieses Jahr auf den Prüfstand.