In ihrer Euphorie über Macrons Wahlsieg glauben die deutschen Journalisten, dass sie nun für fünf Jahre bezüglich Frankreichs aufatmen können. Es kann sich aber herausstellen, dass die Galgenfrist für Macron nur sehr kurz ist.
Sigmund Freud hätte bei dieser Wahl seine helle Freude gehabt. Die Franzosen mussten sich entscheiden, zwischen einer Kandidatin, die ihren Vater „politisch ermordete“ und einem Kandidaten, der seine „soziale Mutter“ heiratete.
Während Macron und seine Anhänger auf dem Marsfeld am Eiffelturm den Wahlsieg zelebrierten, geschahen unter dem Radar der Erleichterung ein paar äußerst seltsame Dinge in Frankreich. Normalerweise wäre über diese Geschehnisse exklusiv berichtet worden. Doch in diesem Falle gab es nur kleine Meldungen – nichts, aber auch gar nichts sollte Macrons Sieg eintrüben.
Polizisten haben auf der Pont Neuf, zwei Kilometer von der Siegesfeier im Zentrum von Paris entfernt, auf ein Auto geschossen, das versucht haben soll, sie zu rammen. Die Pont Neuf befindet sich in der Nähe des berühmten Louvre-Museums. Sie überspannt die Seine-Insel Île de la Cité, auf der sich unter anderem die Kathedrale Notre-Dame befindet. Die Beamten wollten das Auto kontrollieren, weil es auf der Brücke Pont Neuf in die falsche Richtung fuhr. Anstatt zu stoppen, soll der Fahrer auf die Polizisten zugehalten haben. Daraufhin eröffneten die Beamten das Feuer. Dabei wurden zwei Insassen des Fahrzeugs erschossen und ein dritter verletzt. Die Polizei sieht allerdings keinen Zusammenhang mit der Wahl und hat Ermittlungen gegen die „Männer“ aufgenommen, aber auch gegen die Polizisten.
Die Cola-Flaschen im Einkaufswagen nachzählen
In mehreren Städten in Frankreich hat es nach dem Ausgang der Präsidentschaftswahl am Sonntagabend Proteste gegeben. In Paris und in Lyon kam es zu Zusammenstößen zwischen linken Gruppen, „Gelbwesten“-Demonstranten und der Polizei, Feuerwerkskörper flogen gegen die lokale Polizei. Schließlich musste die Police National einschreiten.
Frankreich ist in drei gleich starke Lager gespalten, die Begriffe „rechts“ und „links“ verlieren ihren Inhalt. Das ehemalige Lager der „Mitte“ ist bedeutungslos geworden. Die konservative Kandidatin Pecresse – nach eigener Aussage „zwei Drittel Merkel und ein Drittel Thatcher“ scheiterte an der Fünfprozenthürde. Auch die Grünen scheiterten daran.
Das „ehemals linke“ Lager besteht heute aus vielen wirtschaftlich schwachen Franzosen, zu denen auch viele integrierte Zuwanderer gehören. Diese Menschen leiden unter den Auswirkungen der Inflation und sind daher eher skeptisch gegenüber der Politik der Europäischen Zentralbank. Sie haben viele Gemeinsamkeiten mit dem ehemals „rechten“ Lager, die unter den unhaltbaren Zuständen leiden, die durch eine illusionäre Migrationspolitik in großen Teilen des Landes hervorgerufen wurde. Dazu gehören auch bürgerliche Franzosen, die sich in ihrem traditionellen Wertekodex angegriffen fühlen.
Dazu kommt der Frust, den Macrons völlig überzogene Corona-Politik erzeugt hat. Diese hat viele Franzosen hart getroffen, besonders in den großen Städten. Eine der Ursachen ist, dass die französischen Ordnungskräfte effektiv arbeiten und auch unsinnige Maßnahmen wie Passierscheinpflicht oder das Verbot, mehr als „Dinge des täglichen Bedarfs“ einzukaufen, in den Städten rigoros durchsetzten. Es konnte passieren, dass Polizisten die Cola-Flaschen im Einkaufswagen nachzählten oder Joggern mit dem GPS eine zu große Entfernung zur eigenen Wohnung vorwarfen, weil nur ein Kilometer gestattet war.
Macron hat die Spaltung sogar vertieft
Macron hat für die französischen Eliten und ihre abgehobene Politik eine Galgenfrist erkämpft. Jedoch sitzt Macron zwischen allen rinken und lechten Stühlen und hat die Sisyphos-Aufgabe, das Land wieder zusammenzuführen. Dazu braucht er Geld, auch Steuergroschen aus Deutschland. Dies erklärt seine Affinität zur Achse Paris–Berlin. Deutsche Journalisten sind diesbezüglich eher naiv und glauben, dass Macron ein überzeugter Europäer ist, weil sie im alten Lagerdenken verhaftet sind.
Macron hat es in den vergangenen fünf Jahren nicht geschafft, die Spaltung der Gesellschaft zu überwinden. Im Gegenteil hat er sie sogar vertieft, deswegen gibt es u.a. die Gelbwesten. Und erst die gewaltsamen Ausschreitungen brachten die Macron-Oligarchie zum Einlenken. Es bleibt zu hoffen, dass Macron gelernt hat und wenigstens das Land nicht noch einmal mit einer neuen Welle unsinniger Corona-Maßnahmen überzieht.
In ihrer Euphorie über Macrons Wahlsieg glauben die deutschen Journalisten, dass sie nun für fünf Jahre bezüglich Frankreichs aufatmen können. Es kann sich aber herausstellen, dass die Galgenfrist für Macron nur sehr kurz ist.
In Frankreich findet voraussichtlich am 12. und 19. Juni 2022 eine Parlamentswahl statt. In zwei Wahlgängen werden die 577 Abgeordneten der 16. Nationalversammlung der Fünften Republik bestimmt. Auch wenn der französische Präsident traditionell mit fast monarchischer Machtfülle ausgestattet ist, braucht Macron eine Parlamentsmehrheit, um zu regieren. Ob die unter den gegenwärtigen Bedingungen zusammenkommt, ist jedoch mehr als fraglich.