Vera Lengsfeld / 24.03.2009 / 12:15 / 0 / Seite ausdrucken

Vierundzwanzigster März 1989/2009

Worauf vorher nur gehofft werden konnte, ist jetzt Gewissheit: bei einem Treffen mit dem sowjetischen Partei-, und Staatschef Gorbatschow in Moskau wird dem ungarischen Parteichef Grosz versichert, dass es keinen Einwände gegen den Plan gäbe, in Ungarn ein Mehrparteiensystem zu etablieren. Anders als 1956 würden sich die sowjetischen Truppen nicht gegen die Reformen in Ungarn stellen, jedenfalls nicht, so lange Gorbatschow ihr Oberbefehlshaber ist. Der Weg für die Ungarn ist frei und sie sind entschlossen, ihre Spielräume auszunutzen.
Im Westen herrscht weiterhin Schweigen über diese wirklich bahnbrechenden Entwicklungen im Ostblock. Selbst die Friedensbewegung thematisiert die aufregenden Veränderungen nicht.

Dem Schweigen von damals steht heute eine wachsende Bereitschaft von Politikern und Journalisten gegenüber, das Regime in der DDR und die Kommunistische Diktatur insgesamt zu verharmlosen. Der jüngste Vorstoß kam vom Ministerpräsidenten von Mecklenburg-Vorpommern, dem Unbekannten aus der Ministerpräsidentenriege.
Herr Sellering, der die DDR selbst nicht erleben musste, behauptete, man könne die DDR nicht als „totalen Unrechtsstaat“ verdammen, in dem es „nicht das kleinste bisschen Gutes gab.“ Er lässt sich dann tatsächlich zu einer Aufzählung des „Guten“ hinreißen: Kinderkrippen, Schule, Gesundheitsversorgung.
Die Folgen zu frühen und zu langen Aufenthaltes in den Kinderkrippen der DDR könnte er heute allerdings studieren, wenn er die Analysen der behandelnden Psychologen , die sich mit den Spätfolgen der durch die Krippe geschädigten Jugendlichen befassen müssen, zur Kenntnis nähme.
Höhere Bildung bekam man in der DDR nur, wenn man dem richtigen Elternhaus entstammte, oder sich so anpasste, dass die falsche Abstammung durch die gezeigte Ergebenheit dem System gegenüber kompensiert wurde. Wer sich kritisch äußerte, wurde ohne wenn und aber von der Schule geschmissen und für das Studium gesperrt.
Es gab einen Einheitslehrplan, von dem nicht abgewichen werden durfte und Staatsbürgerkunde-Unterricht, in dem die Gesinnung der Schüler laufend geprüft wurde.
Es kann schon sein, dass seine Genossen Regierungskollegen von der Linken Herrn Sellering etwas anderes erzählt haben. Er scheint ihnen gern zu glauben, denn es ist ja auch zu peinlich, mit Leuten zu regieren, die für ein Unrechtsystem verantwortlich waren und sich bis heute aus dieser Verantwortung stehlen.
Ich wünsche Herrn Sellering nichts Böses, aber eine Zahnbehandlung nach Art der DDR, wo Zähne bis auf den Nerv ohne Betäubung gebohrt wurden, von Bohrern mit langsamer Umdrehungszahl, würde ich ihn gern mal erleben lassen. Danach wäre er ganz sicher kein Fan des Gesundheitssystems der DDR mehr. Wenn doch, kann man für ihn nur hoffen, dass er weder auf eine künstliche Niere, noch auf Medikamente angewiesen ist, die nur von westlichen Pharmafirmen hergestellt werden. Denn sonst hätte er im „guten“ Gesundheitssystem der DDR schlechte Karten. Für die künstlichen Nieren gab es so lange Wartelisten, dass es ohne Beziehungen wahrscheinlicher war, zu sterben, als rechtzeitig an das rettende Gerät angeschlossen zu werden. Westmedikamente waren für die Nomenklatura, nicht für das gemeine Volk. Der beste Beweis für das Klassensystem im DDR-Gesundheitswesen ist,  dass nicht nur die Regierung, sonder auch die Stasi, die Polizei und die Armee über eigene Krankenhäuser mit Sonderversorgung verfügten. Als normaler Bürger wäre Herr s. dort nicht reingekommen. Da , wie er selbst einräumt, es keine unabhängigen Gerichte gab, hätte er keine Möglichkeit gehabt, die nötige Behandlung einzuklagen. Bliebe dann nur der Trost, zufällig das Opfer eines „Schusses Willkür und Abhängigkeit“ in einem System mit „Stärken“ geworden zu sein. Ich bin allerdings sicher, dass Herr Sellering nach solchen Erfahrungen die alte Bundesrepublik mit ihren „Schwächen“ vorgezogen hätte.

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Vera Lengsfeld / 21.04.2024 / 10:00 / 34

„Der General muss weg!” Der Fall Siegfried Buback

Als ich noch in der DDR eingemauert war, hielt ich die Bundesrepublik für einen Rechtsstaat und bewunderte ihren entschlossenen Umgang mit den RAF-Terroristen. Bis herauskam,…/ mehr

Vera Lengsfeld / 11.03.2024 / 16:00 / 20

Wie rettet man eine Demokratie?

Warum lässt die schweigende Mehrheit zu, dass unter dem Schlachtruf, die Demokratie und das Grundgesetz zu verteidigen, beides ausgehöhlt wird? Was man ganz einfach tun…/ mehr

Vera Lengsfeld / 06.02.2024 / 12:00 / 38

Wie man Desinformation umstrickt – und noch schlimmer macht

Wenn man gewisse „Qualitätsmedien" der Fehlberichterstattung und Manipulation überführt, werden die inkriminierten Texte oft heimlich, still und leise umgeschrieben. Hier ein aktuelles Beispiel.  Auf diesem Blog…/ mehr

Vera Lengsfeld / 04.02.2024 / 15:00 / 20

Die Propaganda-Matrix

Die öffentlich-rechtlichen Medien und die etablierten Medien leiden unter Zuschauer- und Leserschwund, besitzen aber immer noch die Definitionsmacht. Das erleben wir gerade wieder mit einer Propaganda-Welle. …/ mehr

Vera Lengsfeld / 02.02.2024 / 06:05 / 125

Wie man eine Desinformation strickt

Am 30. Januar erschien bei „praxistipps.focus.de“ ein Stück mit dem Titel: „Werteunion Mitglied werden: Was bedeutet das?“ Hier geht es darum: Was davon kann man davon…/ mehr

Vera Lengsfeld / 06.01.2024 / 06:25 / 73

Tod eines Bundesanwalts

Als ich noch in der DDR eingemauert war, hielt ich die Bundesrepublik für einen Rechtsstaat und bewunderte ihren entschlossenen Umgang mit den RAF-Terroristen. Bis herauskam,…/ mehr

Vera Lengsfeld / 29.12.2023 / 13:00 / 17

FDP #AmpelAus – Abstimmung läuft noch drei Tage

Die momentane FDP-Führung hatte offenbar die grandiose Idee, die Mitgliederbefragung unter dem Radar über die Feiertage versanden zu lassen. Das Online-Votum in der FDP-Mitgliedschaft läuft…/ mehr

Vera Lengsfeld / 28.12.2023 / 10:00 / 124

Wolfgang Schäuble – Tod einer tragischen Figur

Wolfgang Schäuble, die große tragische Figur der deutschen Nachkriegspolitik und gleichzeitig ein Symbol für das Scheitern der Parteipolitik, wie sie sich in Deutschland entwickelt hat…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com