Von Lisa Marie Kaus.
Der aktuelle italienische Haushalt sorgt gerade für viel Lärm um nichts. Denn im Prinzip ist schon seit Jahren alles gelaufen. Die paarmal, als sich ein Mitgliedsland der Eurozone an die 3-Prozent-Regel gehalten hat – von der Verschuldungsobergrenze fangen wir gar nicht erst an –, waren Ausnahme und Zufall in einem. Von 1995 bis 2016 wurde die 3-Prozent-Grenze 115 mal verletzt.
Die prominentesten Sünder waren bis jetzt Deutschland und Frankreich, die die Defizitregeln 2003 missachteten. Beide Länder konnten eine Einstellung des Sanktionsverfahrens erwirken. Während Deutschland – der kranke Mann Europas – nach einigen Jahren aus der Rezession fand, legte Frankreich zuletzt 1974 einen ausgeglichenen Haushalt vor. Von 2009 bis 2018 stand es unter besonderer Beobachtung der Kommission wegen eines übermäßigen Defizits. Die Vorgaben und Fristen der EU Kommission erfüllte Frankreich nie. Dennoch ergriff Brüssel keine weiteren Schritte, freundlich plätscherten Empfehlungen dahin. Mittlerweile erfüllt Paris die Defizitregel wieder, wie die Kommission erst kürzlich feststellte. Mit der ökonomischen Steuerung der EU hat das aber nichts zu tun. Es ist einfach purer Zufall, dass das Defizit nun den Vorgaben entspricht.
Das erfolgreiche Taktieren Deutschlands und Frankreichs 2003 sowie die Entwicklungen nach Ausbruch der Finanzkrise 2008 führten die Schwachstellen der Verschuldungsregeln vor Augen. Die Ereignisse wurden jeweils als Anlass für Reformen genutzt. Während die erste Reform vor allem auf mehr Flexibilität der Länder, kurzfristig höhere Defizite fahren zu können, setzte, zielte die zweite Reform auf eine Stärkung der noch nie eingesetzten Sanktionsmechanismen ab. Seitdem ist nicht mehr der Rat der europäischen Finanzminister, sondern die Kommission für die Verhängung von Sanktionen bei einem übermäßigen Defizit eines Mitgliedslandes zuständig. Trotz einer Vielzahl an Gelegenheiten hat sie es dennoch nie getan. Die empirische Forschung konnte keinerlei Einfluss der Fiskalregeln und ihrer Reformen auf die Verschuldungsdisziplin der Länder feststellen.
Die Unterzeichnung des Maastrichtvertrags im Februar 1993 erschuf mit der Wirtschafts- und Währungsunion eine neue Institution. Was Institutionen bewirken, ist ein zentraler Forschungsgegenstand der Ökonomie. Sie schaffen Anreize. Eines der großen Dilemmata der Menschheit ist, dass etwas, was einem Mitglied einer Gesellschaft Vorteile bringt, oft dem Gesamtwohl aller zuwiderläuft. Seit der Finanzkrise ist dieses Problem des „Moral-Hazard" in aller Munde. Um dies zu verhindern, müssen Institutionen Informationen der Akteure verwerten und ihre Anreize so steuern, dass es sich für alle lohnt, Teil der Gemeinschaft zu sein und sich an ihre Regeln zu halten. Das Ergebnis dieser Interaktion – gesteuert durch das Regelwerk – sollte dann am besten noch effizient sein oder zumindest zu einem gewünschten Ergebnis führen.
Deutschland gewährt einen Billionenkredit ohne Sicherheit
Die ökonomische Vertragstheorie beschäftigt sich mit der Ausgestaltung solcher Handlungsvorgaben. Am besten funktioniert das mit einem allwissenden, wohlmeinenden zentralen Planer. Ein zentraler Planer, ein Arbeitgeber oder beispielsweise ein Elternteil haben eine konkrete Vorstellung, was sie erreichen wollen – zum Wohl der Gemeinschaft, zum wirtschaftlichen Erfolg, zum Wohl des Kindes. Sie wissen dabei, was "am besten ist" und stehen immer vor der Herausforderung, die Gegebenheiten so zu gestalten, dass es für den Mitgliedsstaat, den Angestellten oder den Vierjährigen unter allen möglichen Gegebenheiten am lukrativsten ist, die Regeln zu befolgen. Die Theorie bezeichnet einen solchen Gestaltungsrahmen als anreizkompatiblen Mechanismus. Schon bei einem Vierjährigen stößt so mancher an seine Grenzen. Bei 19 Vierjährigen, die auch noch Wahlen zu gewinnen haben, würden wohl die meisten kapitulieren. Noch komplizierter wird es, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die 19 Länder der Eurozone quasi die Aufsichtspersonen ihres Kindergartens bestimmen – Kommissare fallen nicht vom Himmel.
Hinzu kommt noch, dass weder Eltern noch Unternehmer noch Brüsseler Beamte allwissend und am Allgemeinwohl orientiert sind. Die Verschuldungsregeln fordern viel – zu viel – von allen beteiligten Institutionen und Menschen. Bereits in den Verhandlungen zur Währungsunion, war das klar. Die südlichen Länder unterstrichen von Anfang an ihre Forderung nach einem Transfermechanismus in der neuen Wirtschafts- und Währungsunion. Und so war es letztendlich auch das Auswärtige Amt und nicht das Finanzministerium, das die Einigung vorantrieb. Die aktuellen Entwicklungen in Italien sind weder überraschend noch neu.
Eine zentrale Bedingung, damit Verträge eingehalten werden, ist, dass sich zunächst einmal das Abschließen eines solchen für alle Parteien lohnen muss. Manche Verträge kommen nur zustande, wenn eine zentrale Stelle Zahlungen an eine beteiligte und ansonsten benachteiligte Partei ausgibt. Nur dann haben alle einen Anreiz, den Vertrag einzugehen. In der Eurozone heißt dieses Transfersystem TARGET2. Deutschland gewährt einen Billionenkredit, und als Sicherheit hat es – nichts. Das Epizentrum der Auseinandersetzung über den italienischen Haushalt liegt nicht in Italien, die Detonation würde ihre ganze Kraft maßgeblich in Deutschland entfalten.
Niemand hat einen Plan, niemand wird aktiv
Die Wirtschaftswissenschaft beschäftigt sich nicht nur mit Verträgen und Anreizen, sondern auch mit Strategien und Nutzen. Die Mitgliedsländer und die Kommission verfolgen eigene Ziele, die sie strategisch zu erreichen versuchen. Nur wenn die Mitgliedsländer glauben, dass die Kommission die Begrenzung der Verschuldung als Ziel verfolgt und jeden Verstoß ahndet, werden sie sich den Regeln entsprechend Verhalten. Die Kosten eines Staatsbankrotts sind, politisch und kurzfristig betrachtet, immer sehr hoch. Der Vorteil aus dem Erhalt der Glaubwürdigkeit entfaltet sich erst später, nach und nach. Während es bei einer Zentralbank letztendlich ihre Reputation ist, die die Inflationsrate im Zaum hält, ist es in einer Föderation die Glaubwürdigkeit der Zentralregierung, Transfers zu verhindern und Fiskaldisziplin durchzusetzen, um eine Überschuldung zu verhindern. In der Eurozone glaubt kein Mensch mehr daran. Isch over.
Wohlgemerkt, es gibt auch Prozesse, die nicht aktiv gestaltet und durchgesetzt werden müssen und gerade deshalb so effizient sind: funktionierende Märkte. Aber funktionierende Märkte würden die Kosten der Währungsunion offensichtlich machen. Der Markt nimmt einen Staatsbankrott in Kauf und führt Verantwortung und Haftung zusammen. Der Politiker hat viele Beweggründe, dies so lange wie möglich zu verhindern.
Keiner, der in irgendeiner Weise auf politischer oder bürokratischer Ebene für das aktuelle Versagen verantwortlich ist, hat ein Interesse daran, dass sich diese längst eingetretenen Verluste während seiner Amtszeit manifestieren. Niemand hat einen Plan, niemand wird aktiv handeln. Solange die Musik noch spielt, wird der Scherbenhaufen einfach weitergereicht. Wie bei der Reise nach Jerusalem werden beim Aussetzen der Musik die meisten keine Stühle mehr finden und verlieren. Wer das sein wird, steht jetzt schon fest: wir.
Lisa Marie Kaus ist Mutter eines einjährigen Sohnes und war nach einem Studium der Volkswirtschaftslehre im Europäischen Parlament in Brüssel tätig. Derzeit arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an ihrer Promotion.