War die vermeintliche Nahtod-Erfahrung der SPD also nur eine Nah-Scheintod-Erfahrung? Es wäre der altehrwürdigen Partei zu gönnen. Auf jeden Fall ist es ein Anlass für ein paar Gedanken- und Farbenspiele.
Schon Mark Twain hatte die Freude, einen Zeitungsbericht mit folgenden Worten zu korrigieren: „Die Nachricht von meinem Tod ist stark übertrieben.“ Wenn sich die aktuellen Umfragen bestätigen, befindet sich die SPD in einer ähnlich erfreulichen Lage wie der alte Amerikaner. Auch die Nachrichten vom nahenden Tod der SPD, an deren Verbreitung auch dieser Schreiber teilnahm, könnten stark übertrieben gewesen sein. War die vermeintliche Nahtod-Erfahrung der SPD also nur eine Nah-Scheintod-Erfahrung? Es wäre der altehrwürdigen Partei zu gönnen. Auf jeden Fall ist es ein Anlass für ein paar Gedanken- und Farbenspiele.
Die Unionsparteien, die einen guten Monat vor der Bundestagswahl, also zu einem für sie ärgerlichen Zeitpunkt, in den Umfragen um ein paar Punkte abrutschen, sprechen natürlich von Momentaufnahmen. Stimmt. Aber als sie deutlicher vorn lagen, waren das auch Momentaufnahmen. Sogar die Wahl selber ist eine Momentaufnahme, nur eben eine mit ernstlichen politischen Folgen. Bemerkenswert ist seit langem, dass die ehemaligen Volksparteien sich heutzutage freuen, wenn sie – unterschiedlich deutlich – die Zwanzig-Prozent-Marke knacken oder gar die Dreißig-Prozent-Marke mit bloßem Auge erkennen können. Auch daran, dass die Grünen bei diesem Zwanzig-Prozentspiel mit von der Partie sind, hat man sich gewöhnt. Zwanzig Prozent – das ist ein schlappes Fünftel der Wähler. Selbst wenn sich die Unionsparteien im Doppelpack wieder ein sattes Viertel sichern können, darf man den Begriff „Volksparteien“ mit einem dicken Fragezeichen versehen.
Jedenfalls schleicht sich die SPD mit 20 plus Prozent hautnah an die schwächelnden Konservativen heran, bei Insa ist sie sogar bei 22 Prozent gleichauf mit den Schwarzen. Wie also verspricht die Lage zu sein, im Fall einer dauerhaften Wiederbelebung der SPD?
Große Drängler sind ja beide Herren nicht
Fangen wir einfach mal mit der langweiligsten, etwas näher rückenden, aber rechnerisch nicht ausreichenden Kombination an: noch mal vier Jahre Schwarz-rot.
Das einzig Interessante daran wäre die Neubesetzung in der Hauptrolle. Laschet (neu) plus Scholz (schon länger da). Wie könnte eine solche Paar-Dynamik aussehen, wenn man in diesem Zusammenhang von Dynamik sprechen mag? Würde Olaf Scholz als erfahrene Nummer zwei den frisch in die Hauptstadt umgezogenen Armin Laschet vor sich her treiben? Oder könnte es dem CDU-Mann im Kanzleramt wie seiner Vorgängerin gelingen, den Sozialdemokraten in den Bühnenhintergrund zu drängen? Große Drängler sind ja beide Herren nicht. Vielleicht zeichnet sich, wenn, dann wohl mit weiterem Partner, ein harmonisches Paar mit Aussicht auf eine lange Ehestrecke ab. Die gelassenen Persönlichkeiten sprächen dafür, anderes nicht.
Die Stärke des Sozialdemokraten: Er ist der große Unklare aus dem Norden. Mit seinen allerweltspolitischen Aussagen ist es ihm gelungen, die Leute vergessen zu lassen, was für eine Partei er aktuell hinter sich her schleppt. Er tritt an als der Vernünftigste und Besonnenste aus dem ganzen politischen Angebot. Das macht ihn mit Abstand zum beliebtesten Kandidaten. Olaf Scholz ohne SPD – das wäre ein Selbstläufer. Aber er ist nun mal die Galionsfigur eines Schiffes, das einen ganz anderen Kurs in den Segeln hat. Angela Merkel ist unangreifbar genug, um den linken Steuerleuten ihres Vizekanzlers bisher den Wind aus den Segeln zu nehmen. Aber Armin Laschet?
Die wieder auflebenden SPD-Wähler stehen also vor der Frage, wen sie da eigentlich wählen. Den Middle-of-the-Road-Scholz, eine Art Laschet mit anderem Parteibuch, oder die dunkelrote Formation aus Saskia Esken, Norbert Walter-Borjans, genannt NoWaBo, und Kevin Kühnert, dem nach oben drängenden Juso. Eine schöne Denksportaufgabe für Freunde des gespaltenen Bewusstseins und kein gutes Omen für eine neue GroKo.
Mit unverhohlener Liebe zu den Grünen verschreckt
Aber, wie gesagt: Nach den bisherigen Umfragen kommt eine glatte Fortsetzung der schwarzroten Langeweile nicht infrage. Dritte Mehrheitsbeschaffer würden gebraucht, zum Beispiel die Liberalen in Gestalt von Christian Lindner, des Gottseibeiuns der linken SPD-Führung. Auf dieses Zusammentreffen kann man gespannt sein. Die Liberalen hatten sich beim letzten Mal zwar freiwillig aus der Regierungsarbeit zurückgezogen, sobald sie im Ernst drohte. Aber diesmal würde sich Lindner wohl trauen wollen dürfen können, wenn Esken und NoWaBo ihn als Kröte schlucken würden.
Jedenfalls ist Armin Laschet der FDP herzlicher zugeneigt, als es Angela Merkel war, die Christian Lindner damals mit ihrer unverhohlenen Liebe zu den Grünen verschreckt hat. Ja, Laschet hätte in Berlin – wie bei sich zu Hause in Düsseldorf – gerne die Liberalen dabei. Aber in der Not frisst der Kanzlerkandidat halt das, was ihm rechnerisch und politisch vorgesetzt wird. Also auch Schwarz-rot-grün, wenn die SPD-Linken den erschreckend Liberalen partout nicht reinlassen wollen? Warum nicht. Aber das wäre ein adipöser Regierungs-Brocken, mehr als dreimal zwanzig Prozent. Er würde nur ein paar schmale Plätzchen für eine Rumpf-Opposition übrig lassen. Andererseits: So neu wäre das auch wieder nicht. Angela Merkel führt schon lange inoffiziell eine um die Grünen verbreiterte Riesen-Koalition.
Fehlt noch was bei diesen Spekulationen? O ja. Die rot-grün-rote Variante, die Deutschland zu einem Auswanderungsland machen würde. Dieses Konstrukt verfehlt bisher und wohl auch am 26. September deutlich die Zielmarke. Aber spaßeshalber sei erwähnt: Dem SPD-Kandidaten würde im Falle von Rot-grün-rot der schönste aller Preise winken: Bundeskanzler statt nur Vize. So wie Heinrich dem Vierten einst Paris eine Messe wert war, so könnte dem netten Olaf Scholz das Kanzleramt einen Konfessionswechsel wert sein – von Mitte-Links zu Orthodox-Links.
Damit wären wir bei Annalena Baerbock angekommen
Aber, wie gesagt, die Arithmetik verspricht, dass dem SPD-Mann diese Gewissensentscheidung erspart bleibt. Vorläufig kann er – wie vor gut hundert Jahren Mark Twain – das angenehme Gefühl genießen, vom politischen Ableben weiter entfernt zu sein, als es eine Zeitlang gemeldet wurde.
Oder gibt es doch noch ein Horrorszenario für Olaf Scholz? O ja. Die Zahlen lügen nicht. Und sie versprechen unter Auslassung der Roten auch einer schwarz-grün-gelben Variante eine satte Mehrheit. Das wäre für den in der eigenen Partei einsamen SPD-Mann nicht nur der Abschied aus der Regierung sondern auch die Verbannung in die Diaspora. Denn auf den Oppositionsbänken hätte das linke Trio unüberhörbar das Sagen. Was spricht für Schwarz-grün-gelb? Armin Laschet als Freund der Gelben für den Fall, dass sich die Grünen eher mit den Liberalen vertragen als die hartlinken Sozialdemokraten.
Damit wären wir bei Annalena Baerbock angekommen, die in diesem Text bisher nicht persönlich aufgetreten ist. Ob sie sich mit Christian Lindner leichter tut als Saskia Esken, könnte eine Schicksalsfrage für die Zeit nach der Bundestagswahl werden. Was spricht dafür? Annalena Baerbock ist geschwächt und darum vielleicht zugänglicher als die schmallippige Esken. Die Grünen-Kandidatin hat sich ja selber so viele Fallstricke gebastelt, dass ihre Partei auf den dritten Platz zurückgefallen und die SPD vorbeigezogen ist. Ganz vorn wird die Luft halt dünn. Trotzdem: Den Grünen ist in diesem Rennen eine solide Bronze-Medaille sicher. Alle Achtung.
Darum wollen wir – als letzte Variante – auch Grün-rot-rot mit einer neuen, jungen Kanzlerin nicht ganz ausschließen. Ganz nicht. Aber fast ganz. Die grün-rot-rote Kombo ist so unwahrscheinlich geworden, dass auch dieser Grund, Deutschland in ein Auswanderungsland zu verwandeln, wohl entfällt.
Also, was geht? Deutschland (schwarz-rot-goldgelb) oder Kenia (schwarz-rot-grün) oder Jamaika (schwarz-grün-gelb). Was geht nicht? Deutschland zum Gähnen (schwarz-rot) oder Deutschland als Auswanderungsland (rot-grün-rot) oder (grün-rot-rot).
Alles in allem eine bunte Wahl.
Nachtrag vom 24.08.2021
Politische Farb- und Koalitionsspiele haben es an sich, dass sie endlos sein können. Wo zieht man die Grenze? Darf der Wunsch als Vater des Gedankens mitspielen? Zum Beispiel, indem man sich auch eine schwarz-gelbe Koalition ausmalt, die manchen erfreuen würde, und sei es nur der Nostalgie oder der Abwechslung halber?
Beim Spielen darf man alles, aber ein bisschen Ernst muss auch gestattet sein. Und da Schwarz-gelb, also eine Borussia-Dortmund-Koalition, rechnerisch hinten und vorne nicht passt, empfiehlt es sich, sorry Borussia, diese Variante in den Bereich der Fantasie zu verweisen. Mit anderen Worten: Nix is.
Ähnliches gilt für Schwarz-grün. Da käme zwar deutlich mehr zusammen. Rechnerisch eine echte Konkurrenz für Schwarz-rot, also für die Kombination, die sich früher Große Koalition nennen konnte. Aber auch für diese Wunschkoalition umweltbewusster Unternehmergattinnen gilt: Kurz vor dem Ziel gescheitert ist auch gescheitert.
Wie aber sieht es mit einer Farbkombination aus, die rechnerisch passen könnte, aber politisch ein Ding der Unmöglichkeit ist? Da wird es schon spannender. Womit wir uns ganz vorsichtig der Ampel annähern. Ja, die Zahlen könnten hinhauen für Rot-grün-gelb. Aber die Politik lebt nicht von Zahlen allein.
Das große Ampelproblem sind die Gelben. Im Straßenverkehr mag die Gelbphase ihren Sinn haben. In der Bundespolitik sind die Gelben, auch FDP oder Liberale genannt, nun mal nicht jedermanns Sache. Im Fall der Ampel würden die Liberalen gleich mit zwei Partnern zusammengespannt, die gelb einfach nicht riechen können. Es wäre kein flotter Dreier sondern geradezu ein Sadomaso-Dreier. Ich fürchte, wir müssen auch diese Kombination aus Gründen des Berliner Minimal-Friedens beiseite lassen.
Macht doch nichts. Unsere Wahlmöglichkeiten sind auch so bunt genug. Kein kompletter Regenbogen, aber schillernd genug, dass man sich die Augen reibt.