Eugen Sorg
Als die Ludwig-Börne-Stiftung bekannt gab, dass der Philosoph Peter Sloterdijk mit dem diesjährigen Börne-Preis geehrt werden sollte, schien dies zunächst niemanden zu stören, ausser vielleicht diejenigen, die sich heimlich erhofft hatten, selber den renommierten Preis für Autoren zu bekommen, die im Bereich des «Essays, der Kritik und der Reportage Hervorragendes geleistet» haben.
Der Juror und Laudator Hans Ulrich Gumbert, ein angesehener Literaturprofessor, hatte die Wahl mit dem Satz begründet, dass Peter Sloterdijk die deutsche Öffentlichkeit immer wieder «in intensive Zustände intellektueller Wachheit» versetze. Angesichts des bilderreich wuchernden und mehrdimensional raunenden Stils des Philosophen und Vielschreibers ein gewagter, aber immerhin schön klingender Satz.
Alle Geladenen freuten sich auf die offizielle Feier, die am 16. Juni in der Frankfurter Paulskirche stattfinden soll – bis es vor drei Tagen zu einem kleinen Eklat kam.
Der Publizist Henryk M. Broder, Börne-Preisträger des Jahres 2007, verkündete in einem Artikel in der «Welt», dass er seinen Preis zurückgebe. Er wolle «keinem Zirkel angehören», schrieb er, «der einen Terrorversteher und Massenmordverkleinerer aufnimmt». Was hatte Sloterdijk getan?
Broder zitierte Aussagen, die dieser kurz nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in New York gemacht hatte. Er hatte die Terrorakte «einen Zwischenfall in amerikanischen Hochhäusern» genannt, als sei irgendwo die Klimaanlage aus gefallen, und unter den historisch «schwer wahrnehmbaren Kleinzwischenfällen» rubriziert.
Die Kritik an Sloterdijk war nicht neu. In einem «Spiegel»-Essay «Herr der Blasen» (52/2002) hatte Broder ihn vor elf Jahren als «Felix Krull der intellektuellen Szene» verspottet, als «Pastor Fliege der Philosophie», als Kabarettfigur, die so spreche, wie sie schreibe: «prätentiös» und «verquast». Aber vor allem hatte er schon damals dessen «philosophische Relativierung des Massenmords» von 9/11 verurteilt und die «Kälte und Mitleidlosigkeit», mit der dieser über die 3000 Toten räsonierte. Das Ereignis würde man «in einer Unfallstatistik nicht wahrnehmen», hatte Sloterdijk formuliert, und: «Zwei- oder dreitausend Tote innerhalb eines Tages liegen innerhalb der natürlichen Varianz.»
Darf man einem schriftstellernden Hyperproduzenten wie Sloterdijk, der jährlich Hunderte von Seiten Text generiert, an einzelnen Dummheiten messen, die er vor Jahren geäussert hat und die in keinem Zusammenhang mit dem übrigen Werk stehen?
Auf eine Anfrage meint Henryk M. Broder, Dummheit sei «ein weiter Begriff», und er habe auch schon dummes Zeug geschrieben. Wo die Grenze zwischen harmloser Dummheit und bösartiger Verachtung verlaufe, liege im Auge des Betrachters. «Für mich ist das, was Peter Sloterdijk geschrieben hat, eine Grenzüber schreitung, die nicht verzeihbar ist: 3000 Tote – ein Kleinzwischenfall.»
Sloterdijks Reaktion auf 9/11 gehört allerdings noch zu den milderen, vergleicht man sie mit denjenigen vieler anderer Kommentatoren. Broder präsentiert einige von ihnen in seinem «Welt»-Artikel. Der Moraltheologe und links katholische Bestseller-Autor Eugen Drewermann beispielsweise schulmeisterte in einer Radio sendung nicht ohne Schadenfreude noch am Abend der Anschläge Richtung Amerika:
«Terror ist die Ersatzsprache der Gewalt, weil berechtigte Anliegen nicht gehört werden, es ist die Sprache der Ohnmächtigen, der Selbstmörder.» Er verwies überraschend auf Hiroshima, wo «mit einer einzigen Bombe über 100 000 Menschen getötet wurden.» Und er predigte dunkel: «Unrecht erleiden ist besser, als selber Unrecht tun.»
Klar an dieser Mahnung war einzig, dass sie sich nicht an die Täter wandte, sondern irgendwie an die Opfer.
Auch der Fernseh-Intellektuelle Roger Willemsen wird zitiert, der bei Alfred Biolek sinnierte, «nicht ganz sicher (zu sein), ob das wirklich erschreckende Bilder waren». Doch spürte er angesichts «der Erhabenheit der Katastrophe» ein «sublimes, ich will nicht sagen Vergnügen, ein sublimes Behagen daran, das einen Augenblick lang gedacht werden darf», ohne dem «Terror des Amüsements» ausgeliefert zu sein. Broder kommentiert die Haltung des telegenen Schnellsprechers erbarmungslos: «Das war schon mehr als Kaltschnäuzigkeit, es war geistiges Herrenmenschentum am Rande eines Massengrabes.»
Wurde mit Sloterdijk die falsche Person angeprangert? Nahm Broder die Vergabe des Börne-Preises vor allem zum Anlass, die jämmerliche Reaktion führender Intellektueller auf ein Ereignis, das den weiteren Verlauf der Geschichte geprägt hat, in Erinnerung zu rufen? Broder selber, der allergisch auf Pathos reagiert, meint: «Ich tue nur das, was Heino getan hat, nachdem Bushido einen Bambi bekommen hat: Er gab seinen Bambi zurück.»
Ludwig Börne, Zeit- und Streitgenosse von Heinrich Heine, war revolutionärer Demokrat und politischer Journalist. Geboren in Frankfurt als Juda Löb Baruch, änderte er später seinen Namen, um antisemitischen Ressentiments die Spitze zu nehmen. Seine Leidenschaft und sein polemisches Talent waren gefürchtet. «Seit ich fühle», notierte er einmal, «habe ich Goethe gehasst, seit ich denke, weiss ich warum.» Er legte sich furchtlos mit den Grossen und Mächtigen seiner Zeit an. «Wo irgend auf deutschem Boden ein Galgen steht, wird man kein würdigeres Subjekt daran aufzuhängen finden», schrieb die «Münchener Politische Zeitung», «als diesen Herrn Baruch modo Börne.»
Der Ludwig-Börne-Preis wird erst seit 1993 verliehen. Mit ihm sollen das Werk und die Person des Namensstifters lebendig gehalten werden. Ob Börne sich über die Vergabe des Preises an Peter Sloterdijk freuen, ob er sich überhaupt über die feierliche Verleihung von Ehrenmedaillen in seinem Namen freuen würde, bleibt unbeantwortbar. Sicher ist aber, dass ein begnadeter Polemiker und politischer Gottesdienstschreck vom Range Broders sich in bester börnescher Tradition bewegt.
Zuerst erschienen in der Basler Zeitung