Keiner lächelt. Die Süßwarenverkäufer, die Maharadschas, der Großwildjäger, absurd inmitten seiner Ausbeute inszeniert, die Tänzerinnen- alle blicken ernst in die Kamera. Sehr ernst. Beinahe ängstlich. Fünf Sekunden Belichtungszeit zählte man damals, als die Fotos entstanden. Vermutlich hielt man angestrengt die Augen offen und vergaß sogar aufs Atmen. Man wollte keinen Fehler machen. Fünf Sekunden lang. Die Fotos haben diese Menschen niemals zu Gesicht bekommen, heute sind sie in der Ausstellung „Das Koloniale Auge- Frühe Porträtfotografie in Indien“ im Museum für Fotografie in Berlin zu sehen (bis 21. Oktober 2012). Und viele Menschen, erstaunlich viele Menschen, sehen sich die 300 Porträts an. Beugen sich nachdenklich über Fotos von Menschen, die ihnen fremder nicht sein könnten, studieren Augen, Lippen, Haare, Kleidung. Halten inne vor dem Foto der hungernden Menschen, die vor einer Hütte sitzen und auf Rettung warten.
Was nimmt man mit aus so einer Ausstellung, fünf Minuten später werden draußen Menschen die Fotografie wieder ad absurdum führen, sinn- und wahllos die Kamera auf sich, andere, Fahrräder und Spatzen halten, zum Zwecke der Belustigung und des Zeitvertreibes. Fünf Sekunden Belichtungszeit sind hier Mittelalter, kaum jemand weiß, wie eine Kamera funktioniert, in fünf Sekunden produziert eine moderne Kamera ein Dutzend Fotos, geschaffen, um auf irgendwelchen Fotochips oder in Computern einer Zukunft entgegen zu dämmern, in der sie niemand mehr ansehen wird. Der Müll der Zukunft. Täglich milliardenfach gedankenlos produziert. Die besten Fotos landen auf Facebook.
Zurück ins Museum. Es sind die weltweit bedeutendsten Bestände historischer Porträtfotografie Indiens, lange galt die Sammlung als Kriegsverlust und gelangte erst in den 1990er-Jahren teilweise wieder nach Berlin zurück. Aufgenommen wurden die Gesichter in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, gezeigt werden unter anderem Bilder der großartiken Fotografen und Agenturen Samuel Bourne, Shepherd & Robertson, A.T.W. Penn und John Burke. Ethnografische Fotografie war damals populär, die Menschen in Europa wollten sehen und verstehen, wie die Menschen im fernen Indien aussahen und lebten. Die Ausstellung zeigt Fotos von Handwerkern, Zufallsbekanntschaften - ebenso wie aufwendige Adelsporträts, stundenlang inszeniert.
Wer einen eigenen Palast hatte, lud den Fotografen ins traute Heim, wer nur einen Stand mit Obst hatte, musste froh sein, wenn ein Fotograf ihn interessant genug fand, um ein Foto für die Wissenschaft zu machen. Gleichzeitig konnte es ihm auch egal sein, denn er hatte weder etwas mit Fotografie noch mit Wissenschaft zu tun. Die Fotografen tauchten auf, erledigten ihren Auftrag, verschwanden wieder, das Leben ging weiter. Für die Forscher waren diese Fotos Trophäen.
Heute kann man in fünf Sekunden zehn Fotos machen und neun gleich wieder löschen (häufig sind alle zehn unbrauchbar). Kein Mensch braucht zehn Fotos von der selben Situation. Leere Gesichter, hilflose Gesten, die lustig sein sollen. Für wen eigentlich? Oh, gute, alte Zeit, als ein Film noch einen Wert darstellte, den man nicht vergeuden wollte. 20 Fotos vom selben Motiv- wer hätte das bezahlen sollen? Hat die Änderung der Belichtungszeit die Menschen glücklicher gemacht? Auf der Internationalen Funkausstellung IFA in Berlin wurde gerade eine Kamera präsentiert, die man sich als Radfahrer auf den Helm montiert und die das Video per WLAN auf das Handy überträgt. Für die Lieben daheim oder Menschen in Indien, die wissen wollen, wie andere Artgenossen sich die Zeit vertreiben.
Silvia Meixner ist Journalistin und Herausgeberin von http://www.good-stories.de