Von Leon P. Weiss
Bin ich ein Sexist, weil ich das Problem, das ich mit “Der November kommt” habe, nicht bei Sibylle Berg, sondern bei Claudius Seidl beginnen sehe? Sie schrieb in einer Spiegel-Kolumne, dass sie es aufgegeben habe, Männern erklären zu wollen, dass sie sich von verschleierten und von nackt präsentierten Frauen gedemütigt sieht, “als ob ich ein Schwarzer wäre, der an seinen Kumpels mit Fußfesseln vorbeispaziert, die auf Baumwollfeldern ihren Job machen.” Dass nicht nur “Nacktheit”, sondern auch der “Schleier” auf sie so wirke (Seidl schreibt unpassend “Schleier”, weil ihm “Burka” wohl nur zu denken schon politisch unangebracht vorkommt), dazu fällt ihm bezeichnender Weise nur ein, mit ihrer Äußerung die absurde Forderung nach einer “Kleidungsnorm” in Verbindung zu bringen, “eine Anstands-Uniform, welche die sexistischen Blicke zurückweist, aber noch nicht unter Vermummungsverdacht fällt”.
Vielleicht habe ich eine Schwäche für Frau Berg, vielleicht liegt es auch einfach daran, dass ich lese, was sie schreibt – dass ich bei ihr das Motiv der Emanzipation wahrnehme, das dem deutschen Feuilleton so nahe kommt wie Wasser Öl. “Die Freiheit”, meint hingegen Seidl, die man der (Frau Berg anscheinend unterstellten) Forderung nach Abschaffung von Pornographie und Prostitution entgegenhalten möchte, “wäre die Freiheit, ‘Neger’ zu sagen”, “wäre eine Freiheit, auf welche man, im Namen der Höflichkeit und der Rücksichtnahme, gerne verzichten darf, ohne dass der liberale Rechtsstaat aufhörte, liberal zu sein”.
Seidl verwechselt Macht- und Gewaltverhältnisse mit Liberalität, und kann sich eine Transformation in eine egalitärere Gesellschaft nur als Prozess mit Beschneidungen von Freiheit vorstellen. Das ist es, was das deutsche Feuilleton zunehmend auszeichnet: Man nimmt vorweg, was man als grüne “Tugendherrschaft” kommen sieht, zieht in obskure Schlachten gegen “Panikmacher” (bezüglich Islamismus) und “Anti-Panikmacher” (bezüglich Gefahren durch Atomkraftwerke), predigt Mäßigung als Zukunftsfähigkeit, legt auf Schritt und Tritt Einschränkungen von Freiheit nahe – und feiert sich für dieses anti-aufklärerische Wirken selbst als “Aufklärer” und “liberal”.