Ballettomanen wie ich haben den Ehrgeiz, die großen Ballette am liebsten an den Schauplätzen ganz großer Tanzgeschichte zu sehen: Schwanensee in Moskau! Dornrösschen in St. Petersburg! The Nutcracker in New York!
Bisher habe ich nur letzteres geschafft, und die Vorstellung des New York City Ballets war die schlimmste Verstümmelung dieses herrlichen Klassikers, seit meine Banknachbarin Tamara als Dreizehnjährige in der Nussknackersuite bei der Weihnachtsaufführung ihres längst untergegangenen Wandsbeker Ballettstudios auf die Schnauze gefallen ist.
Aber „Giselle“ zu Ostern im württembergischen Staatstheater Stuttgart – und man weiß wieder, dass kein Weg zu weit sein muss. Es gibt kaum ein Ballett, das deutscher sein könnte als das 1841 uraufgeführte Tanzdrama. Die Handlung nach Motiven von Heinrich Heine spielt im Rheinland und ist auch schon am herzigen Bühnenbild unverkennbar: Fachwerkhäuschen und Weinberge ringsum – in der Ferne die stolze Feste derer von Übel & Gefährlich, von wannen das Unheil dräut. Das Bühnenbild ist bezaubernd altmodisch. Ich liebe Klassiker, die auch wie Klassiker aussehen. Figaro in Bikerkluft oder La Bohème im St.-Pauli-Hafenstraßenmilieu, wie einmal in der Hamburgischen Staatsoper, passen für mich hinten und vorne nicht. Klassiker müssen häufig im Kontext ihrer Zeit verstanden werden. Denn oft kommt irgendwo doch der Haken, an dem sich die Geschichte aufhängt und zur Farce wird, wie eben bei La Bohème: Mimi stirbt zwar zeitgemäß an Aids, aber lebt nach wie vor vom Blümchen sticken. Wenn sie sich die Infektion wenigsten beim Tätowieren geholt hätte …
Das Unheil dräut im Stuttgarter Falle in der knackigen Gestalt von Alexander Jones, einem springfreudigen jungem Engländer. Die verfolgte Unschuld, das tanzwütige und herzschwache Winzermädchen Giselle (ursprünglich Gisela) ist die Spanierin Elisa Badenes.
Alexander Jones tanzt furios den wankelmütigen Herzog Albrecht, der Giselle ewige Liebe schwört, obwohl er natürlich längst seiner standesgemäßen Bathilde versprochen ist. Wildhüter Hilarion, selbst in Giselle verliebt, kommt dem trügerischen Adelsspross auf die Schliche und das Unglück nimmt seinen Lauf. Als der Betrug auffliegt, erleidet Giselle auf offener Bühne erst einen Wahnsinnsanfall, dann einen Herzkasper. Sie stirbt in den Armen des Geliebten, der darob schuldgebeugt von hinnen flieht, und liegt zum Schluss wie eine weibliche Pietà auf dem Schoß ihrer fassungslosen Mutter. Ende des ersten Aktes. Während für die ersten Reihen des Parketts schon Taschentücher und Notfallseelsorger bereitstehen, glaubt man, es könnte im zweiten Akt nicht schlimmer kommen, doch das ist ein Irrtum:Des Nachts auf dem Friedhof, an Giselles Grab, müssen Hilarion und der falsche Verlobte entdecken, dass vor ihrer Hochzeit verstorbene Bräute wie Giselle ruhelos aus ihren Gräbern steigen. Sie mögen ja herzig genug aussehen in ihren weißen Tutus, mit Blümchen im Haar und den entzückenden Mottenflügelchen, aber sie sind die Zombies Of Death, und jeder Mann, dem sie begegnen, muss sich unter der gnadenlosen Regie ihrer Königin Myrtha (Ami Morita) zu Tode tanzen…
Giselle gilt auch heute noch als der technische Prüfstein für Ballettänzer schlechthin. Für die Solistinnen bedeutet das außer erschöpfenden Sprung- und Drehvariationen auch gnadenlos blutige Zehenspitzen fordernde Trippelpartien; für die Solisten hammerharte Sprungkombinationen. Einen Vorteil bietet Giselle allerdings handlungsbedingt: Die Männer dürfen sich ihre Erschöpfung ausnahmsweise anmerken lassen.
Jede Ballerina, die jemals die Giselle oder die Myrtha, die Königin der toten Bräute getanzt hat, weiß ein Lied von der mörderischen Anforderung zu singen. Margot Werner war eine große Interpretin der Myrtha, ebenso, und das glaubt man kaum, die Berliner Kabarettistin Désirée Nick. Eine der wunderbarsten Giselles war Margot Fonteyn (mit Rudolf Nurejew als Partner). Da gibt es im zweiten Akt einen Pas de deux, bei dem der Geist Giselle im Idealfall so aussieht, als wäre er ein Luftballon, der sich nur mit Mühe auf die Erde holen lässt. Im schlimmsten Fall wirkt das Duett so, als würde der Tänzer einen Sack Kohlen auf den Dachboden wuchten. Aber keinesfalls an diesem schönen Abend in Stuttgart. Es ist herrlich, mit welchem Enthusiasmus sich die jungen Tänzer in das alte, immer wieder junge Material werfen. Giselle fliegt und schwebt, Albrecht kann sie kaum halten. Bezaubernd. Und bis zum Sommer auf dem Spielplan.