Gewichtig klingt die Forderung, die die SPD heute im Rahmen ihres Ost-Spitzentreffens zur Zukunft Ostdeutschlands erheben wird. „Wir wollen […] eine gesamtdeutsche Wahrheits- und Versöhnungskommission einsetzen.“ Im Februar 2019 soll dann ein „Zukunftskonvent Ost“ die Einsetzung einer solchen Kommission vorantreiben. „Wahrheitskommission“, das klingt nach der Art Aufarbeitung, mit der sich Südafrika unter Nelson Mandela der Verbrechen des Apartheidregimes angenommen hat. Wer nun aber bei der Verwendung solcherart aufgeladener Begriffe glaubt, die SPD möchte sich unter diesem Titel vielleicht einiger bislang nicht hinreichend beachteter Verbrechen der letzten deutschen Diktatur und ihrer Opfer widmen, der irrt. Das entsprechende SPD-Impulspapier verrät: „Wir wollen eine gesamtdeutsche Aufarbeitung der Umbruchszeit nach 1989.“
Was will uns die SPD mit ihrer Forderung nach einer „Wahrheitskommission“ für die Zeit nach 1989 sagen? Dass Westdeutsche die Ostdeutschen behandelt haben wie das Apartheid-Regime die Schwarzen weiland in Südafrika? Oder dass man die vielen Fehler und Fehlschläge im Prozess der deutschen Einheit ebenso behandeln müsse wie die Verbrechen der SED-Diktatur? Ist den Genossen gar nicht bewusst, welch einer atemberaubenden Diktatur-Verharmlosung sie hier Vorschub leisten, oder ist das bewusstes „Framing“, wie es neudeutsch so schön heißt, wenn es darum geht, Medienkonsumenten mit der richtigen Wortwahl zu manipulieren?
Hervorgetan bei der Forderung nach der „Wahrheitskommission“ hat sich ausgerechnet die sächsische SPD. Ihr Landesvorsitzender Martin Dulig hatte bereits im Sommer eine Wahrheitskommission zur „Aufarbeitung der Treuhand“ gefordert. Ein Auslöser für diese Forderung war die sächsische Integrationsministerin Petra Köpping mit ihrem Buch „Integriert doch erstmal uns!“
Köpping beklagt in diesem Werk die Schließung und Abwicklung vieler Ex-DDR-Betriebe durch die Treuhand, mit der Ostdeutsche massenhaft in die Arbeitslosigkeit gestürzt wurden. Während sie einen Systemwechsel zu verkraften hatten, mussten die Ex-DDR-Bewohner vielerorts zusehen, wie sich ihre Heimat in ein wirtschaftliches Krisengebiet verwandelt hatte, geprägt von Zukunftsängsten und Perspektivlosigkeit. Suggeriert wird, die Treuhand und der Westen trügen die wesentliche Schuld an diesem misslichen Zustand. Die eigentlichen Ursachen finden keine Erwähnung.
Zerrbilder aus dem Standardrepertoire der SED-Nachfolger
Ich habe das Buch nach wichtigen Namen durchsucht. Namen, die mit den Ursachen des wirtschaftlichen Zusammenbruchs des SED-Staates eng verbunden sind. Günther Mittag, das für Wirtschaft zuständige SED-Politbüromitglied, und Gerhard Schürer, letzter Chef der Staatlichen Plankommission finden sich in Köppings Abhandlung nicht. Da gibt es dann natürlich auch keinen Hinweis auf das sogenannte Schürer-Papier vom 30. Oktober 1989. Dieser interne Bericht des Plankommissions-Vorsitzenden an das SED-Politbüro will eigentlich nur nüchterne Zustandsbeschreibung sein, liest sich aber letztlich nur wie eine vollständige Bankrotterklärung. Vielleicht war danach manch führender Genosse insgeheim froh, die Konkursmasse an einen politischen Insolvenzverwalter abtreten zu können.
Das Zerrbild von den vielen Unternehmen, die hätten überleben können, wenn es nicht die falsche Treuhand-Politik gegeben hätte, gehört eigentlich zum Standardrepertoire der SED-Nachfolgepartei. Aber da Genossin Köpping dieser Partei auch bis 1989 angehörte, liegt ihr diese Sicht vielleicht ebenso nah, so falsch sie auch ist. Daran erinnert Richard Schröder, Urgestein der Ost-SPD, der u.a. 1990 der Fraktionsvorsitzende der Sozialdemokraten in der einzigen frei gewählten DDR-Volkskammer war. Er hat sich in einem Medien-Beitrag ebenfalls mit der Forderung nach einer „Wahrheitskommission“ und Köppings Buch auseinandergesetzt und mir gestattet ihn ausführlich zu zitieren:
„Köppings Erzählung folgt einem Stereotyp, das auch von anderen Stilllegungen so erzählt wird. Westdeutsche kauften Ostunternehmen und machten sie platt, um sie als Konkurrenz auszuschalten. Die Maschinen und die vollen Auftragsbücher nahmen sie mit. So haben sich westdeutsche Unternehmen am Volkseigentum bereichert. Und deshalb stieg damals die Zahl der West-Millionäre. Die Story ist verbreitet, aber in keinem Falle unanfechtbar belegt – abgesehen von Kriminalfällen, bei denen die Staatsanwaltschaft tätig wurde. Aus dem Munde einer Ministerin haben wir jene Story bisher allerdings nicht gehört. Sie galt bisher nicht als seriös.“
Die vergessene Stunde der Wahrheit
Es gab selbstverständlich viele Fehler und auch kriminelles Handeln in diesem beispiellosen Umwälzungsprozess. Doch viele Unternehmen waren dennoch verloren, auch wenn sie doch unter DDR-Bedingungen ihre Produkte sogar in den Westen exportiert hatten. Die Stunde der Wahrheit war für viele Betriebe die Währungsunion. Richard Schröder dazu:
„Für den Westexport bedeutete die Währungsunion das Ende, weil sich die Kosten für Lohn und Material vervierfachten. Man konnte Rückstände in der Arbeitsproduktivität (30 Prozent der westlichen) nicht mehr über das Tauschverhältnis 1:4,5 kompensieren. Also entweder die Preise über Weltmarktniveau erhöhen oder defizitär produzieren, das heißt: Schulden machen. Ostdeutsche Produkte hatten nach der Währungsunion entweder ein Qualitätsproblem, wie die Kameras, oder, bei akzeptabler Qualität, ein Preisproblem. Sie waren teurer als die Angebote der westliche (oder ostasiatischen) Konkurrenz.
Selbst ostdeutsche Lebensmittel waren nach der Währungsunion zunächst teurer als westdeutsche! Das Preisproblem verschweigt sie und behauptet stattdessen, man habe behauptet, die Maschinen seien Schrott. Das war zwar tatsächlich sehr oft der Fall, aber auch neuere Maschinen waren keine Garantie für weltmarktfähige Preise. Indem sie eine absurde und manifest falsche Begründung für die Schließung unterstellt, erscheint die Schließung als willkürlich, irrational und verlogen und ist dann nur noch aus Bosheit und finsterer Absicht zu erklären. Damit ist das Tor zu Verschwörungstheorien weit geöffnet.“
Die Verfechterin der „Wahrheitskommission“ hat mit der Wahrheit wohl noch ein paar Schwierigkeiten. Vor allem aber verbreitet die Genossin in ihrem Buch ein Bild von ihren ostdeutschen Landsleuten, das sie streng genommen als unmündige, zu eigenverantwortlicher Entscheidung gar nicht befähigte Betreuungsfälle karikiert. Sie ernennt sich quasi selbst zur Fachfrau betreuter Eingliederung in ihr Gesellschaftsbild – gleichermaßen für Sachsen und Syrer. Eine ernsthaften Debatte über das, was manche Sachsen inhaltlich vorbringen, ersetzt sie lieber durch das Angebot einer Gesprächstherapie. Schröder dazu:
„Aus ihren vielen Bürgergesprächen berichtet Köpping: „fast in allen Fällen war recht schnell nicht mehr „die Flüchtlingsproblematik das entscheidende Thema. Es ging um etwas viel tiefer Liegendes“, nämlich „unbewältigte Demütigungen, Kränkungen und Ungerechtigkeiten“ der „Nachwendezeit“. […] Köpping will mit ihrer These offenbar Ostdeutsche entlasten: wenn Pegida-Demonstranten gegen die Migrationspolitik demonstrieren, einen Miniaturgalgen mit dem Text „für Merkel“ vor sich her-tragen und die Regierenden wegen ihrer Migrationspolitik als Volksverräter beschimpfen, dann haben sie „eigentlich“ gar nichts gegen Fremde, denn sie sind traumatisiert durch die Entwürdigungen der Nachwendezeit. Deshalb wissen sie nicht wirklich, warum sie das tun. Köpping aber weiß es und sagt es uns. Dieser Entlastungsversuch geht voll nach hinten los. Denn er ist eine Entmündigung, weil er die betroffenen Ostdeutschen infantilisiert und pathologisiert.
„Wutbürger“ im Herbst 1989?
Die Ministerin zeigt gelegentlich eine recht spezielle Weltsicht. Vor einigen Wochen hörte ich sie in einem Gespräch über „Wutbürger“ sagen, auch sie sei durch „Wutbürger“ aus dem Amt gejagt worden. Der Satz lässt tief blicken, denn Genossin Köpping verlor im Mai 1990 ihr Amt als Bürgermeisterin von Großpösna durch die ersten freien Kommunalwahlen. Sind die Wähler, die nicht für sie stimmten, die „Wutbürger“? Oder die Menschen, die im Herbst 1989 erfolgreich gegen die SED-Diktatur aufbegehrten?
Wenn sie in ihrem Buch bei den „Wutbürgern“ ist, dann arbeitet sie flugs heraus, dass der Unmut etlicher Ostdeutscher über zu Zuwanderungspolitik eigentlich gar nichts mit der Migration zu tun habe. Und wenn das so ist, dann muss man sich um dieses Thema gar nicht kümmern, sondern die Behandlung entsprechend der Diagnose von Frau Köpping fortsetzen. Richard Schröder hat das gut zusammengefasst:.
Wer Angst vor einer Islamisierung des Abendlandes hat, mit dem sollte man diskutieren, ob diese Angst berechtigt ist. Diese Diskussion wird nicht ganz einfach werden! Wer ihm stattdessen sagt: „eigentlich hast du gar nichts gegen Muslime, sondern du bist durch die Entwürdigungen des Einigungsprozesses traumatisiert“, der nimmt ihn nicht ernst. Im Klartext heißt das übrigens: am Ausländerhass ist mittelbar die Treuhand schuld. Küchenpsychologie ist eine Art von Zauberei, die alles mit allem erklären kann. Wer rational bleibt, fragt sich, ob wirklich ohne die Untaten der Treuhand die Ostdeutschen fremdenfreundlich wären. Warum ist in Polen, Tschechien, Ungarn die Ablehnung von Migranten weitaus stärker als in Ostdeutschland, obwohl es doch in diesen Ländern gar keine Treuhand gab? Und warum werden migrationskritische Parteien in allen westlichen und südlichen Ländern Europas zunehmend stärker? Die Treuhand kanns nicht gewesen sein.“
Fortschreiben der Halb- und Nichtwahrheiten
Wem nutzt nun aber eine solche Art der SPD-Geschichtsschreibung und Ostler-Deutung? Warum braucht es nun diese „Wahrheitskommission“? Das Ziel scheint klar. Die SPD wärmt die Märchen und Sagen der Gebrüder Gysi/Modrow wieder auf und hofft auf Anschluss bei dem Teil der Bevölkerung, der noch immer nicht weiß, wieso es zum Zusammenbruch der DDR kam. Allerdings ist dieser Wähleranteil für die SPD weder relevant, noch für sie aktivierbar. Auch viele dieser Wähler sind mittlerweile schon längst auf dem Nenner, „bis 2015“ war es doch ganz schön hier. Wenn die SPD darüber nicht nachzudenken bereit ist, wird sie außer dem Fortschreiben von Halb- und Nichtwahrheiten nicht viel zu wege bringen.
Für ostdeutsche Interessen in Gesamtdeutschland vorangehen, sich mit der zuweilen irren Linie der Führung der Bundespartei anlegen und erkennbar werden, aufzuklären statt zu vernebeln – das wäre ein erfolgversprechender Weg für die Sachsen-SPD. Dazu gehörte aber Mumm, der nicht vorhanden ist. Stattdessen fahren die Parteispitzen in Bund und Ost-Ländern jetzt einen Kurs, der geeignet ist, die letzten ernst zu nehmenden Sozialdemokraten aus der Partei zu treiben. Die Schlusssätze von Richard Schröder in seinem Welt-Artikel sind bestimmt nicht leichtfertig dahingeschrieben:
„Wenn die SPD eine „Wahrheits- und Versöhnungskommission“ im Sinne Köppings installieren will, die von westdeutschen Funktionsträgern das Eingeständnis erwartet, durch die Gestaltung des Transformationsprozesses Ostdeutschen systematisch und grundsätzlich Unrecht getan zu haben, ist die SPD nicht mehr meine Partei – und auf dem Weg zur Sekte. Noch kann sie das abwenden.“
Übrigens: Eine Wahrheitskommission zur Treuhandanstalt gab es schon. Es war der Treuhanduntersuchungsausschuß des Deutschen Bundestages, und dieser wurde 1993 vor allem auf Betreiben der SPD eingesetzt.