Oliver Marc Hartwich, Gastautor / 25.02.2012 / 23:54 / 0 / Seite ausdrucken

Rückkehr zu alten europäischen Rivalitäten

In der momentanen Krise Europas fehlt es nicht an materiellen Tragödien und persönlichen Härtefällen. Die Volkswirtschaften der Peripherieländer befinden sich auf einer rasanten Talfahrt, bei der Tausende von Unternehmen in den Ruin getrieben werden. Eine ganze Generation junger und gut ausgebildeter Menschen in Südeuropa findet keine Arbeit. Und für diejenigen, die das Glück haben, weiterhin beschäftigt zu sein, wird die Lebenshaltung durch sinkende Löhne und steigende Preise unerschwinglich.

Von diesen sichtbaren Auswirkungen abgesehen, richtet die Finanz- und Währungskrise aber auch schwere Kollateralschäden am philosophischen Fundament Europas an, die den politischen und wirtschaftlichen Wiederaufschwung gefährden.

Es zeugte schon immer von Naivität, über die Realität nationaler Interessen und machtpolitischer Einflüsse in der EU-Politik hinwegzusehen. Zumindest haben europäische Politiker jedoch diese Realpolitik durch ehrgeizigere idealistische Ziele ergänzt. Demokratie, Freizügigkeit, freier Handel, Rechtsstaatlichkeit, Völkerverständigung, wirtschaftliche Stabilität und eine harte Währung – das waren die Werte, die europäische Politiker mit ihrem großen Projekt Europa in Verbindung gebracht wissen wollten.

Mittlerweile wurden jedoch alle diese Werte - der EU-Überbau, um es mit Marx zu sagen – durch die aktuelle Krise beschädigt. Schlimmer noch: Die Krise hat offenbart, dass die jahrzehntelangen feierlichen Beschwörungen „europäischer Werte“ bloße Lippenbekenntnisse waren. Wenn es hart auf hart kommt, ist das Hemd nach wie vor näher als der Rock.

Dies alles wird diejenigen nicht überraschen, die zeitlebens EU-Skeptiker waren und stets darauf beharrten, dass Demokratie nur mit einem demos, einem Volk, funktionieren kann. Sie braucht dazu alle Elemente, die eine liberale Demokratie in einem Nationalstaat ausmachen: eine öffentliche Meinung, die sich durch eine freie Presse äußert und entwickelt, geteilte Ziel- und Wertvorstellungen, ein allseits vorhandenes Bewusstsein einer gemeinsamen Geschichte und ein kollektives Verständnis sowie allgemeine Akzeptanz des Rechtssystems.

Demos bedeutet mehr als nur eine zufällige Gruppe von Menschen, die in einem bestimmten Gebiet leben. Der Begriff bezeichnet eine Gemeinschaft, die sich hinter diesen Grundwerten einer freien Gesellschaftsordnung zusammenfindet.

In Europa hat sich aus den zahlreichen einzelnen demoi, der Völkervielfalt des Kontinents, ein solches demos nie entwickelt. So kam es, dass von der europäischen Demo-Kratie nur noch krátos, die Macht, übrig geblieben ist. Eine Macht, die nicht auf gemeinsamen Werten beruht, ist jedoch von Natur aus gefährlich. „Wenn das Recht fehlt, was sind dann Königreiche anderes als große Räuberbanden?“ fragte der heilige Augustinus im fünften Jahrhundert. Seine Frage lässt sich unmittelbar auf den derzeitigen Zustand der Europäischen Union beziehen.

Die Wirtschaftskrise, eine Kombination aus Verstößen gegen die Bestimmungen der Europäischen Verträge und Verletzungen grundlegender demokratischer Prinzipien, hat die rechtlichen und politischen Fundamente der Europäischen Union stetig ausgehöhlt und bedroht die Zukunft Europas als einer Region der friedlichen und allseits vorteilhaften Kooperation. Die Spannungen, die sich zwischen den so genannten „EU-Partnern“ aufbauen, sind nicht mehr länger zu übersehen.

Bis zu dieser Krise funktionierte Europa auf der Grundlage eines festen Rahmens aus Verpflichtungen, sich gegenseitig nicht in innere Angelegenheiten einzumischen. Mit dem „Bailout“-Verbot im Stabilitäts- und Wachstumspakt wurden Sicherheitsvorkehrungen gegen finanzielle Sorglosigkeit in anderen Ländern getroffen. Zudem hielt Europa an dem fiktiven Gedanken fest, die Europäische Union sei eine Gemeinschaft von Gleichen, die sich einvernehmlich und friedlich für das Gemeinwohl aller einsetzen.

Was wir nun sehen, ist das genaue Gegenteil. Die Nichteinmischung ist einer unmittelbaren grenzüberschreitenden Mitwirkung gewichen. In einer eher harmlosen Form zeigt sich diese an der Art und Weise, wie die deutsche Kanzlerin Angela Merkel offen die Wiederwahl des französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy befürwortet - und damit jede internationale Etikette und Gepflogenheit verletzt. In einer fragwürdigeren Form trat an die Stelle der Nichteinmischung die Absetzung gewählter Regierungen in Italien und Griechenland und ihr Ersatz durch international bestellte geschäftsführende Administrationen.

Auch die Bestimmungen der Europäischen Verträge sind nicht mehr unantastbar. Der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit wurde ausgetauscht gegen das Prinzip des jeweils Notwendigen. So können nationale Regierungen anderen nationalen Regierungen trotz des Bailout-Verbots unmittelbare Finanzhilfen gewähren. Die Europäische Zentralbank kann heimlich Haushaltsdefizite ausgleichen und überschuldeten Regierungen helfen, indem sie deren Anleihen direkt aufkauft oder ihnen Mittel über die Banken zuspielt. Und in einem Verfahren von zweifelhafter Legalität werden Institutionen wie der Europäische Gerichtshof, die der gesamten Europäischen Union gehören, nur von einem kleinen Kreis von Mitgliedstaaten genutzt.

Schlimmer als diese Verstöße gegen den Geist, wenn nicht sogar den Buchstaben des Gesetzes ist jedoch das Verschwinden der größten Errungenschaft der Europäischen Union. Im Kern des Europa-Projekts ging es um die Öffnung von Grenzen zwischen Nationen, um einen freien Verkehr von Menschen, Kapital, Waren und Dienstleistungen zu ermöglichen. Dort, wo einst Zollbeamte und Schlagbäume, Visa und Arbeitsgenehmigungen das Bild bestimmten, hatte die Europäische Union einen gemeinsamen Markt und eine gemeinsame EU-Staatsbürgerschaft geschaffen. Dabei mag noch nicht viel europäische Demokratie im Spiel gewesen sein, aber auf jeden Fall war damit das Versprechen eines europäischen Marktes verbunden.

Angesichts der wachsenden Spannungen zwischen EU-Mitgliedern könnten diese Erfolge demnächst wieder zunichte gemacht werden. In den Niederlanden eröffnete der rechtsgerichtete Politiker Geert Wilders vor kurzem eine Website, auf der niederländische Bürger ihren Zorn auf Osteuropäer bekunden können, die in den Niederlanden leben oder niederländische Arbeitsplätze „stehlen“. Griechen verbrennen als Reaktion auf abfällige Bemerkungen des deutschen Finanzministers Wolfgang Schäuble öffentlich deutsche Flaggen. In Frankreich arbeitet Sarkozy in der Kampagne zu seiner Wiederwahl ganz offen mit nationalistischen Parolen.

Diese Vorfälle bewirken eine allmähliche Zersetzung der einst gefeierten Idee eines offenen Europas. Das europäische Projekt von krátos ohne demos ist in den Augen vieler Europäer in Verruf geraten. Ihr Aufbegehren gegen dieses politische Versagen auf europäischer Ebene führt auf direktem Wege zur Ausbreitung eines neuen Nationalismus und Radikalismus.

Man muss kein begeisterter Anhänger der Europäischen Union sein, um sich angesichts dieser Entwicklungen Sorgen zu machen. Es stimmt schon, dass Brüssel sich nur zu oft als ein in hohem Maße undemokratisches, elitäres, technokratisches und bürokratisches Monstrum erwiesen hat. Richtig ist auch, dass das Experiment einer gemeinsamen Währung für den Kontinent auf ganzer Linie gescheitert ist.

Aber machen wir uns nichts vor: Wenn die alte Europäische Union unter dem Druck der gegenwärtigen Krise und ihrer eigenen Widersprüche zerfällt, gibt es keine Garantie, dass auf sie etwas Besseres folgen wird.

Vielleicht wachen die Europäer eines Tages in einer Welt wieder auflebender nationaler Rivalitäten, eines neuen politischen Extremismus und eines Kontinents ohne die offenen Grenzen auf, die sie früher für selbstverständlich hielten. Diese Tragödie könnte noch weit schrecklicher sein als die wirtschaftlichen Turbulenzen, die der Kontinent derzeit erlebt.

‘Returning to old European rivalries’ erschien zuerst in Business Spectator (Melbourne), 23. Februar 2012. Aus dem Englischen von Cornelia Kähler (Fachübersetzungen - Wirtschaft, Recht, Finanzen).

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