Ingo Langner
Erste Szene: Ein sympathischer, gutaussehender junger Mann, drahtig, agil, flotter Schnellläufer, erklärt einer verbiestert-unwirschen Berlinerin, die sicherlich noch die Scherben des „Tausendjährigen Reichs“ zusammengekehrt hat, mit freundlicher Engelsgeduld, warum er gegen den Staatsbesuch des kongolesischen Diktators Moise Tschombe demonstriert, der 1964 dem Senat von Berlin-West seine Aufwartung machte. Zweite Szene: Derselbe junge Mann, inzwischen mit einigen Sorgenfalten, windelt vier Jahre, etliche Demonstrationen und Agitationsreden später, mit leichter Hand seine frischgeborene Erstgeburt. Er hat seinem Stammhalter – welch eine Symbolik – den schönen Namen Hosea-Che gegeben. Dritte Szene: Zehn Jahre weiter, bemüht sich der durch persönliche Schicksalsschläge Frühgealterte tapfer die kalte Abfuhr zu ertragen, die ihm einstige Kampfgefährten erteilen, als er versucht, politisch neu Fuß zu fassen. Fazit: Rudi, der menschenfreundliche Schmerzensmann.
Doch Rudi Dutschke war kein Mahatma Gandhi mit dem Ziel, unser Land gewaltlos vom „repressiven spätkapitalistischen Joch“ zu befreien. Er war auch kein grüner Ökopazifist, der im Kampf gegen Atomkraft und Waldsterben sich persönlich selbstverwirklichen wollte. Der Studentenführer Dutschke war auch kein Revolutionär neuen Typs. Solche wie er sind die Schwarmgeister der Welt. Es gibt sie zu allen Zeiten, in allen Epochen der Menschheitsgeschichte. Sie sind die charismatisch irrlichternden Egomanen mit dem Messiastouch. Im zaristischen Russland liefen sie dutzendweise herum. Schriftsteller wie Tolstoi oder Dostojewski haben sie anschaulich porträtiert. Auch im nachreformatorischen Deutschland sind sie eine Spezies für sich. Sie heißen Thomas Müntzer und zetteln Bauernkriege an oder Jan van Leiden, der als „Täuferkönig von Münster“ dortselbst mit einem präjakobinischen Terrorregime das Reich Gottes auf Erden errichten wollte. Sie alle „konnten nicht anders“. Sie alle waren direkt oder mittelbar Ursache oder Auslöser von Gewalt, Blut und Tod.
Ein etwas tieferer Blick zurück genügt eigentlich, um sich über sogenannte „zutiefst jesuanische Menschen“ (Walter Jens über Rudi Dutschke) keinerlei Illusionen zu machen. Aber zur klarsichtigen Illusionslosigkeit gehört vor allem eines: absolute Ideologiefreiheit, und exakt die fehlt dem jüngsten Film von Stefan Krohmer, der unter dem knappen Titel „Dutschke“ im ZDF am 27. April gezeigt werden soll und dem wir die oben beschriebenen Szenen entnommen haben.
Wer sich Krohmers Werk ohne jedwede Vorkenntnis der Ereignisse vor und nach dem Dutschke-Attentat am 11. April 1968 anschaut, den erwartet vor allem eines: Desinformation. Dieser Film enthält keine einzige Szene, in der klar werden würde, was der Linksrevolutionär Rudi Dutschke tatsächlich gedacht, gewollt und angestrebt hat. Stattdessen speist das ZDF seine öffentlich-rechtlichen Zuschauer mit einem Boulevardrührstück ab, das nichts wirklich erhellt und alles Wesentliche verdunkelt.
Deshalb hier dies zur Erinnerung: Dutschkes Ziel war die Weltrevolution. Die repräsentative Demokratie und den Parlamentarismus lehnte er ab. Im vom DDR-Sozialismus und den Truppen der sowjetischen Roten Armee umzingelten Westberlin wollte Dutschke eine Räterepublik nach dem Vorbild der Pariser Kommune errichten. Wie dort 1871 sollten sich auf der Basis selbstverwalteter Betriebe Kollektive von höchstens dreitausend Menschen bilden, um ihre Angelegenheiten im „herrschaftsfreien Diskurs“, mit „Rotationsprinzip“ und „imperativem Mandat“ ganzheitlich selbst zu regeln. Polizei, Justiz und Gefängnisse können getrost abgeschafft werden. Die reale Arbeitszeit veranschlagte Dutschke in diesem Paradies auf Erden keck auf nur fünf Stunden täglich. Dutschke bejahte die Militärgewalt der kommunistischen vietnamesischen Truppen. Den Vietnamkrieg betrachtete er als revolutionären Auftakt auch für Europa. Seine Parolen waren: „Schaffen wir zwei, drei, viele Vietnams!“ Denn „die volle Identifikation mit der Notwendigkeit des revolutionären Terrorismus und des revolutionären Kampfes in der Dritten Welt ist unerlässliche Bedingung für die Entwicklung der Formen des Widerstands bei uns.“ Wie die Porträts von Marx, Engels, Lenin und Mao Tse-Tung, war auch das des roten Diktators Ho Chi Minh auf jeder Studentendemonstration in jenen Tagen geradezu Pflicht.
Jeder, der in den Jahren zwischen 1964 und 1968 genau hingeschaut hat, jeder, der genau zuhörte und genau las, was Dutschke sagte und schrieb, konnte über sein Denken und seine Ziele keinen Zweifel haben. Wie also ist so ein verheerender ZDF-Film möglich? Die Antwort darauf ist gar nicht so schwer. Die Verschleierung und Verklärung Dutschkes begann schon nach dem Attentat vom April 68, das der 1940 Geborene schwer verletzt überlebte. Sie wurde intensiviert nach seinem Tod am Heiligabend 1979. Für Jürgen Habermas war er ein „wahrhafter Sozialist“, ein „Charismatiker“ und „unermüdlicher Inspirator“, ein „hinreißender Rhetor, der mit der Kraft zum Visionären durchaus den Sinn fürs Konkrete, für das, was eine Situation hergab, verbunden hat“. Wolf Biermann besang ihn in einem Trauerlied so: „Mein Freund ist tot – sanft war er, sanft, ein bisschen zu sanft wie alle echten Radikalen“. Das Projekt, aus Dutschke einen „Heiligen Rudi der Hörsäle“ zu machen, nahm geradezu absurde Züge an, als die Tageszeitung „taz“ und einige Protagonisten der Rot-Grün-Ideologie den Plan ausheckten, einen Teil der Berliner Kochstraße – und zwar genau dort, wo die „taz“ ihren Sitz hat – offiziell in Rudi-Dutschke-Straße umzubenennen – was nach einer berlinüblichen jahrelangen Diskussion am 30. April 2008 dann auch geschah.
Die lächerliche Metamorphose gelang deshalb so gut, weil aus dem fanatischen sozialistischen Revolutionär inzwischen durch unermüdliche Weichzeichnerei ein pazifistisch angehauchter Friedensengel geworden war. Die Verfälschung der Dutschke-Biographie ist Teil der Geschichtsklitterungsstrategie, mit der die einstigen Wortführer und Akteure der 68er-Generation ihre eigene Vergangenheit schon lange zukleistern und schönreden. Viele von ihnen sind der Parole Dutschkes gefolgt, neben dem revolutionären Kampf, den „Marsch durch die Institutionen“ nicht zu vernachlässigen. Den haben die Cleversten bekanntlich erfolgreich absolviert und blicken nun, als fidele Rentner, vergnügt auf ihre Bankkonten, auf denen Monat für Monat die hübschen Pensionssummen eingehen, die sie als Redakteure, Lehrer, Abgeordnete, Staatssekretäre und Minister postachtundsechzig anhäufen konnten. Von all dem ahnt man in dem ZDF-Film nichts. Stattdessen treten Dutschkes Exgenossen Bernd Rabehl und Gaston Salvatore auf, die beide wortreich den Anspruch erheben, Rudis Kronprinz gewesen zu sein, stattdessen erklärt eine tränenumflorte Exgenossin, wie lieb und sensibel der gute Rudi gewesen sei.
Absurd bis zur Geschmacklosigkeit wird der Film aber da, wo er mit den „Helden von einst“ gemeinsame Sache macht und die Rolle der Ehefrau und Witwe Gretchen Dutschke auf die einer ihm unwürdigen naiven Mitläuferin reduziert. Was immer ihre politische Position damals gewesen sein mag, die gebürtige Amerikanerin hat vor allem in allen „schlechten Tagen“ den Platz an der Seite ihres Mannes niemals verlassen. Sie war sein Stecken und Stab auf seiner Odyssee nach dem Attentat, als Dutschke aus Angst vor weiteren Anschlägen in Deutschland nicht bleiben wollte und nach zeitweiligen Aufenthalten in der Schweiz, in Italien, England und Irland erst in Dänemark einen Arbeitsplatz an der Universität von Arhus erhielt. Und Gretchen Dutschke ist nicht zuletzt die Mutter seiner drei Kinder, für die sie nach seinem frühen Tod allein die Verantwortung übernehmen musste. Aber dies menschlich-mütterliche Tun zählt für die Protagonisten von einst offenbar wenig. Ihnen ist es ja nie um den einzelnen Menschen, sondern immer gleich um die gesamte Menschheit gegangen. Darunter machen es selbsternannte Weltretter bekanntlich nicht.
Was dem Film außer einer lebensechten Darstellung einer deutschen Revolutionsbiographie vor allem mangelt, sind Interviews mit gewichtigen Zeitzeugen. Gewiss, was der Dutschke-Biograph Wolfgang Kraushaar zu Erhellung beispielsweise der Gewaltfrage beiträgt, ist richtig und klug. Was aber fehlt, sind Personen wie Wolf Biermann, Jutta Ditfurth, Hans-Magnus Enzensberger, Günter Grass, Joschka Fischer, Jürgen Habermas, Otto Schily, Friede Springer, Antje Vollmer oder Klaus Wagenbach, die alle auf ihre Weise mit Dutschkes Vita verbunden waren. Die Filmemacher holen nicht einmal aus dem Archiv, was verstorbene Einflussreiche wie Rudolf Augstein, Ralf Dahrendorf oder Günter Gaus zu und über Rudi Dutschke in verschiedenen Interviews oder Zeitungsartikeln gesagt haben.
Über diesen blinden Fleck helfen auch die gut gemachten Spielszenen nicht hinweg, die Regisseur Krohmer zwischen die Dokumentaraufnahmen gestreut hat. Kurzum: Sein Film ist Desaster und Armutszeugnis zugleich, ein Dokument des Scheiterns. Schade ist nur, dass sich der zweifellos exzellente Schauspieler Christoph Bach so viel Mühe mit seiner Rolle als Dutschke-Darsteller gemacht hat. Sie wäre andernorts sinnvoller gewesen. Jenseits davon möchten wir hier mit der Fußnote schließen, dass Rudi Dutschke noch 1961 für die zum Axel-Springer-Verlag gehörende Berliner Boulevardzeitung „B.Z.“ Sportreportagen geschrieben hat. Einige Jahre später wollte der Neomarxist diesen Verlag wegen angeblicher Volksverhetzung enteignen lassen. Auch das ist ihm bekanntlich nicht gelungen.