Von Hansjörg Müller
Welch schöne Bilder uns dieser Tage aus dem Vereinigten Königreich erreichen: Papst Benedikt XVI. im Gespräch mit der Königin und Prinz Philip, als Prediger vor hunderttausenden von begeisterten, meist jugendlichen Gläubigen und - 479 Jahre nach der rein machtpolitischen Entscheidung König Heinrichs VIII., die englische Kirche von der römischen abzuspalten - beim Bruderkuss mit dem geistlichen Oberhaupt der Anglikaner, dem Erzbischof von Canterbury, Rowan Williams. Die erzkonservativen Blätter des Königreichs, allen voran der „Daily Telegraph“ und die „Daily Mail“, empfangen den Bischof von Rom ausgesprochen freundlich - keine Spur mehr von den altbekannten antideutschen Gefühlen der britischen Rechten, die in der deutschen Öffentlichkeit so oft beklagt wurden und die doch, angesichts der Zerstörung von Coventry und der Raketenangriffe auf London, allzu verständlich waren. Der „Spectator“, das Leib- und Magenblatt der intellektuellen Tories, feiert Benedikt gar als einen der großen Denker unserer Zeit: „Joseph Ratzinger ist seit Jahrhunderten der bedeutendste Theologe auf dem Papstthron. Selbst wenn er niemals auch nur Bischof geworden wäre, würden seine Schriften in den Universitäten studiert werden.“
Und dennoch mischen sich, wie immer, wenn der Papst ein westliches Land besucht, auch Wermutstropfen ins Bild. Demonstranten im Londoner Stadtteil Twickenham fordern den Pontifex auf, wegen der Missbrauchsskandale in kirchlichen Einrichtungen zurückzutreten, andere stören sich an der vom Papst gepredigten Sexualmoral: kein Sex vor der Ehe, keine Empfängnisverhütung, Homosexualität als sündhafte Abweichung von der Norm - das alles erscheint den Kirchenkritikern, vielleicht nicht ganz zu Unrecht, als weltfremd. Trotzdem bleibt unverständlich, warum sich die Protestierenden über die Ansichten des Papstes derartig echauffieren, schließlich leben wir doch alle in einer freien, offenen und pluralistischen Gesellschaft. Niemand wird gezwungen, katholisch zu werden oder zu bleiben - wer mit dem Papst übereinstimmt, der soll ihm folgen, und wer nicht, der kann es bleiben lassen, ohne dass er irgendwelche Sanktionen befürchten muss. Wer mit der Römischen Kirche nicht einverstanden ist und trotzdem Christ bleiben möchte, der hat seit der Reformation, also seit mittlerweile über 500 Jahren, eine Vielzahl von Alternativen. Und wer stattdessen Atheist, Buddhist oder was auch immer sein möchte, der soll es werden - in der freien Welt darf jeder nach seiner Fasson selig werden.
Anders sieht es in anderen Teilen der Welt aus: wer im Iran Christ oder Buddhist werden möchte oder wer sich in der Öffentlichkeit als Atheist bezeichnet, der muss die Todesstrafe fürchten und wer die Ehe bricht - zumindest als Frau - auch. Im Gegensatz zu den Mullahs im Iran hat der Papst keine weltliche Macht mehr - außer im Vatikanstaat, aber die Staatsangehörigkeit dieses Landes erlangt man durch freie Entscheidung, nämlich indem man beschließt, Priester oder Mönch zu werden, während man als Iraner oder Saudi geboren wird. Warum empören sich Benedikts Kritiker nicht über die Menschenrechtssituation in der arabischen Welt? Warum demonstrieren sie nicht für die Menschen in Darfur? Oder warum setzen sie sich nicht mit dem Antisemitismus linker Intellektueller in Westeuropa auseinander? Warum arbeiten sie sich stattdessen lieber an einem Mann ab, der auf dem Bazar der Weltanschauungen ein Angebot unter vielen macht und es den potentiellen Konsumenten überlässt, ob sie es annehmen wollen oder nicht?
Die deutschen Papst-Kritiker halten sich selbst für unwahrscheinlich kritische Geister. Sie wollen unbequem sein und unangenehme Fragen stellen. Jeder mittelmäßig begabte politische Kabarettist, der vor dem SPD-Seniorenverein in Castrop-Rauxel über Joseph Ratzinger spottet, glaubt, er sei ein neuer Giordano Bruno. Doch brennende Scheiterhaufen sind heute nicht mehr in Sicht, Gott sei Dank. So werden die selbsternannten Ketzer weiter offene Türen einrennen und todesmutig aussprechen, was 90 Prozent ihrer Zuhörer denken. Die heutigen Papstkritiker sind vor allem eines: furchtbare Langweiler.
Hansjörg Müller schreibt auch für die kolumbianische Online-Zeitschrift „El Certamen“ (http://www.elcertamenenlinea.com). Eine vollständige Übersicht über seine Veröffentlichungen finden Sie unter: http://thukydidesblog.wordpress.com/