Vor zehn Jahren nahm mit der Aufdeckung des Missbrauchsskandals am Canisius-Kolleg, einem vom Jesuitenorden getragenen, privaten und staatlich anerkannten katholischen Gymnasium in Berlin-Tiergarten, eine Debatte ihren Fortgang, die mit Bekanntwerden der Missbrauchsfälle an der mittlerweile geschlossenen Odenwaldschule, einem Landerziehungsheim im Stadtteil Ober-Hambach der hessischen Stadt Heppenheim (Bergstraße), ausgelöst worden war.
Dann sprengte der Missbrauchskomplex Bergisch Gladbach mit 30.000 Spuren alle
bisherigen Dimensionen, bei denen bereits befürchtet wird, dass am Ende auch 30.000
Verdächtige im In- und Ausland stehen könnten. Zuvor hatte bereits der Missbrauchsfall
auf dem Campingplatz in Lüdge unvorstellbare Zustände enthüllt. Und vor wenigen Tagen kam dann eine Meldung, die alle bisherigen in den Schatten zu stellen droht:
„Staatlich organisierter Kindesmissbrauch“ so lautete die schier unfassbare Schlagzeile in der „Welt“ vom 26. Juni 2020: „Es gab in der Bundesrepublik jahrzehntelang ein Netzwerk von Pädophilen, die sich Jungen für Sex zuführten. Geholfen haben ihnen Jugendämter, Wissenschaftler, Berliner Senatoren und sogar ein Max-Planck-Institut.“ Als „oberster deutscher Pädophilie-Verharmloser“ wirkte der Sexualwissenschaftler Helmut Kentler (gest. 2008).
Gesetzesinitiativen diskutiert oder gleich gefordert
Ich möchte mich hier nicht mit den Tatbeständen als solchen befassen. Darüber wird in
allen Medien hinlänglich ausführlich und wohl auch zutreffend berichtet. Mir geht es vielmehr um die Struktur des gesamten Prozesses, in dem das Thema von Anfang bis
Ende behandelt wird. Dabei möchte ich auf einige Phasen hinweisen, die nicht die
(politische und mediale) Aufmerksamkeit erfahren, die ihnen eigentlich zusteht.
1) Am Anfang steht die Meldung über den betreffenden Vorgang, dessen Ausmaß
zunächst vielleicht gar nicht erkennbar ist.
2) Sobald dieses sich abzeichnet, folgt die öffentliche Empörung
- In den „sozialen Netzwerken“ (ein völlig unpassender Ausdruck, der sich aber mittlerweile etabliert hat) und Online-Kommentaren,
- parallel dazu die detaillierte Berichterstattung in Presse, Funk und Fernsehen,
- sodass die Politik gezwungen ist, sich mit Statements zu beteiligen.
3) Ebbt die Diskussion nicht ab, werden Gesetzesinitiativen diskutiert oder gleich
gefordert.
4) Am Ende steht schließlich ein Gesetzesbeschluss von Bundestag und Bundesrat, der
in der Regel zu Verschärfung der Strafandrohung in dem einschlägigen Gesetz führt.
In den nun folgenden Phasen lässt das öffentliche Interesse spürbar nach und flammt
erst wieder auf, wenn ein spektakulärer Einzelfall gemeldet wird.
5) Dabei folgt erst jetzt die Stunde der Wahrheit, in der sich das Gesetz im konkreten
Ermittlungsverfahren bewähren muss. Dieses wird von zwei Faktoren bestimmt: Der
Personalsituation bei den „Ermittlungspersonen der Staatsanwaltschaft“ (§ 152
Gerichtsverfassungsgesetz, GVG), in der Regel die Kripo, und der Staatsanwaltschaft
als juristischer Herrin des Verfahrens (§ 160 Strafprozessordnung, StPO). Wie die
Verhältnisse in Berlin zeigen, darf die Polizei auch nicht durch ideologische
Scheuklappen bei der Ausführung der Gesetze behindert werden, in denen die Politiker gerade eine härtere Gangart beschlossen haben. Wenn es, wie etwa in Hamburg „nur in 10% der Ermittlungsverfahren tatsächlich zu einer Anklage kommt“, dann nützt auch die beste Polizei nichts.
In Gefängnissen herrscht ein ungünstiges Klima
6) Dass die im Gesetz angedrohte Höchststrafe erst wirken kann (von einer umstrittenen
Abschreckungswirkung abgesehen), wenn sie am Ende eines Strafverfahrens auch tatsächlich verhängt wird, wird in der Hitze der politischen Diskussion ebenso häufig
übersehen wie die Unabhängigkeit der Richter. Wenn wieder einmal die ganze Härte
des Gesetzes eingefordert wird, steht am Ende des Verfahrens nicht selten eine lächerliche Bewährungsstrafe, die vom Angeklagten durchaus als das empfunden wird, was sie in vielen Fällen ist: ein Witz.
7) Während meiner juristischen Ausbildung in den 60er Jahren betrug das Höchstmaß für
eine Bewährungsstrafe neun Monate, heute liegt die Marke bei zwei Jahren (§ 56 Absatz 2 Satz 1 Strafgesetzbuch, StGB). Bei einer verhängten Freiheitsstrafe von nicht mehr als einem Jahr ist die Strafaussetzung zur Bewährung sogar zwingend, wenn das Gericht zu einer günstigen Prognose für den Angeklagten kommt (§ 56 Absatz 1 StGB).
8) Der Grund für diese Regelung liegt in der Erwartung, „dass der Verurteilte sich schon
die Verurteilung zur Warnung dienen lassen und künftig auch ohne die Einwirkung des
Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen wird.“ Man kommt vermutlich der Wahrheit näher, wenn man die chronische Überfüllung der Strafvollzugsanstalten als eigentliches Motiv für diese Regelung ansieht.
9) Der Strafvollzug hat eine doppelte Aufgabe (§ 2 des Gesetzes über den Vollzug der
Freiheitsstrafe und der freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung, Strafvollzugsgesetz – StVollzG). Das eigentliche Vollzugsziel besteht darin, den Gefangenen zu befähigen, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen. Außerdem dient der Vollzug der Freiheitsstrafe auch dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten. In der Tat: Solange sich jemand in Haft befindet, ist die Gesellschaft außerhalb der Anstalt vor ihm sicher. Dafür werden im Gefängnis selbst Straftaten von der Körperverletzung über Vergewaltigung (!) bis hin zum Mord begangen, vom Drogenmissbrauch ganz abgesehen. Außerdem herrscht nicht selten ein Klima, das eher die Entwicklung zum Straftäter als zum gesetzestreuen Bürger begünstigt.
Es wird nur einmal lebenslänglich verhängt
10) Aber selbst wenn man dies alles außer Acht lässt und der Täter endlich „lebenslänglich“ hinter Schloss und Riegel sitzt, bedeutet das mitnichten, dass er für
den Rest seines Lebens von der übrigen Gesellschaft ferngehalten wird. Vielmehr gilt
nach § 57a StGB Folgendes: „Das Gericht setzt die Vollstreckung des Restes einer lebenslangen Freiheitsstrafe zur Bewährung aus, wenn
1. fünfzehn Jahre der Strafe verbüßt sind,
2. nicht die besondere Schwere der Schuld des Verurteilten die weitere Vollstreckung
gebietet und
3. die Voraussetzungen des § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und 3 vorliegen.“
Das bedeutet, dass dies unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann und die verurteilte Person einwilligt. Hinzu kommt, dass es bei der Strafzumessung keinen Unterschied macht, ob der Angeklagte einen, fünf oder 25 Morde begangen hat: Es wird nur einmal lebenslänglich verhängt (§ 53 Absatz 1 StGB). Einer der letzten Gefangenen, der nach altem Recht am 22. Oktober 1960 als 23-Jähriger zu sechsmal lebenslangem Zuchthaus und weiteren 15 (aus Einzelstrafen von zusätzlichen 165) Jahren Gefängnis verurteilt wurde, war der Frauenmörder Heinrich Pommerenke; er verstarb am 27. Dezember 2008 als 71-Jähriger in der Haft.
Derzeit sitzt noch der Doppelmörder Hans-Georg Neumann seit 1962 im Gefängnis; er wird im September 84. Seine dagegen eingelegten Rechtsmittel, einschließlich Gnadengesuch und Verfassungsbeschwerde, sind bisher alle gescheitert. Bei mehreren Morden kommt allerdings die anschließende Sicherungsverwahrung in Betracht, die sich in erster Linie an der Gefährlichkeit des Täters orientiert (§ 66 StGB).
11) Bei zeitlichen Freiheitsstrafen, die bis zu fünfzehn Jahren betragen können, gilt die
entsprechende Regelung, wenn zwei Drittel der verhängten Strafe verbüßt sind, § 57
Absatz 1 StGB.
Wo bleibt die Sorge um die Opfer?
12) All diese Bestimmungen vermitteln den Eindruck, der Staat sorgt sich – nach einem
Wort von Ralph Giordano – um seine Täter, während die Opfer erst im Laufe einer langen Entwicklung seit dem ersten Opferentschädigungsgesetz von 1976 etwas mehr in den Vordergrund rückten. Dieser Eindruck wird auch in dem Moment bestätigt, in dem der Täter zum Opfer wird, mit anderen Worten, wenn sich Jahre nach seiner Verurteilung die Anzeichen für seine Unschuld mehreren. Das sogenannte Wiederaufnahmeverfahren gehört zu den schwierigsten Aufgaben für einen Anwalt. Und wenn es endlich zum Erfolg geführt hat, erwartet den unschuldig Verurteilten eine äußerst magere Entschädigung.
13) Um Entschädigung geht es auch bei den Opfern, die aufgrund jahrzehntelanger Praxis der Berliner Jugendämter in die Obhut von Pädophilen gegeben wurden (vgl. zum Beispiel den Bericht in der „Welt“ vom 1. Juli 2020). Immer wenn es ums Geld geht, zeigen sich alle, die sonst mit warmen Worten nicht geizen, äußerst zugeknöpft. Da fällt dann plötzlich das Stichwort „Verjährung“, obwohl der Jurastudent bereits in den ersten Semestern lernt, dass diese nur im Strafrecht von Amts wegen zu beachten ist, während sie bei zivilrechtlichen Ansprüchen vom Schuldner – in diesem Fall also vom Land Berlin – explizit geltend gemacht werden muss (Einrede der Verjährung, § 214 BGB). Wir würden ja gerne, können aber leider nicht, funktioniert also hier nicht. Es sei denn, dass haushaltsrechtliche Bestimmungen und Überlegungen plötzlich im Vordergrund stehen und all die hehren Bekenntnisse überlagern.
Stellen wir uns also nach alledem vor, die Höchststrafen für den Besitz von Bildern und
Filmen, die sexualisierte Gewalt gegen Kinder zeigen, stiegen von drei auf fünf Jahre, und von fünf auf zehn Jahre für deren Verbreitung. Und die Ermittlungen der
Sonderkommission bei der Kölner Polizei führten zum Erfolg. Und alle 30.000
Verdächtigen würden angeklagt und mit der ganzen Härte des Gesetzes verurteilt. Dann
wären nicht nur die Gerichte auf Jahre beschäftigt. Die Strafanstalten würden aus allen
Nähten platzen. Am 31.03.2019 beherbergten sie 65.796 Gefangene. Und „plötzlich“
kämen 30.000 dazu. Da würde nur helfen, die Sonderkommission rechtzeitig von Köln
nach Hamburg zu verlegen, wo nur 10 Prozent der Fälle zur Anklage kommen. 3.000 also. Das müsste gehen.