Antje Sievers / 14.07.2010 / 10:50 / 0 / Seite ausdrucken

Nichts gegen Fußball, aber…

Die Fußball-WM ist vorüber. Endlich können wir uns alle wieder hinsetzen und zur Tagesordnung übergehen. Früher waren mir Sportereignisse wie diese völlig gleichgültig.

Das hat sich mit der WM von 2006 grundlegend geändert. Was dem einen sein Sommermärchen, ist dem anderen sein Sommernachtsalbtraum.

Dabei habe ich überhaupt nichts gegen Fußball. Auch nichts gegen Fußballfans. Das einzige, was mir auf den Wecker fällt, sind die kuriosen Selbstüberhöhungen, die sie betreiben.

Das weiß ich aus meiner kurzen Zeit als St.Pauli-Fan. Damals haben meine Kommilitonen glaubhaft versichert, der St.Pauli-Fan unterscheide sich meilenweit von jedem anderen Fußballfan. Nach ihrer Schilderung war er eine Mischung aus Mutter Teresa und Nelson Mandela, Drogenbeauftragtem und Intellektuellem. Das wollte ich natürlich erleben.

Bei jedem Spiel, das ich besuchte, war eine Art Knabenchor zugegen, der immer das gleiche Lied zum Besten gab. Es bestand aus einem einprägsamen Zweizeiler und war rein musikalisch so aufgebaut, dass man es auch noch spielend bewältigt, wenn man schon mit einer Hälfte des Gesichts in der eigenen Kotze liegt: Eine kleine Nymphomanin ficken! ficken! Eine kleine geile Sau! Sau!

Rassistische Pöbeleien gab es ebenfalls und es wurde hektoliterweise Bier gesoffen.

Warum auch nicht. Fußball ist Fußball. Wer gehobene Unterhaltung sucht, geht besser in die Staatsoper.

Ähnliches erlebe ich nun wieder bei jeder WM. Wir sind ausschließlich eine fröhliche, friedliche, sportbegeisterte Fußballnation; angeblich nimmt keiner das Ganze wirklich ernst, es geht doch nur um ein Spiel. Das wichtigste ist der Sport. Der Fußball an sich.

Und jeder, der was anderes zu behaupten wagt, ist ein Arschloch, Miesmacher und Spielverderber.

Wenn daran wirklich ein Körnchen Wahrheit wäre, hätten Massen von Deutschen das Endspiel verfolgt – schließlich spielten die beiden besten Mannschaften der Welt gegeneinander – rasant, gekonnt, actionreich, brutal. Nicht umsonst hagelte es gelbe Karten. Haben sie aber nicht. Und nicht nur das:

Von einem Polizisten habe ich erfahren, dass es bei dem großen Fanfest auf dem Heiligengeistfeld regelmäßig zu wüsten Schlägereien kam und wie frustrierend es sei, dass man davon nie etwas in den Zeitungen lesen konnte. Mein Stammitaliener verliert langjährige Kundschaft, weil er es wagt, für Italien zu jubeln. Eine Bekannte von mir wird nach dem Sieg der spanischen Mannschaft in einem Geschäft schmerzhaft angerempelt. Helfen tut ihr keiner, und wundern soll sie sich gefälligst auch nicht, wenn sie hier eine Tasche mit spanischer Nationalflagge trägt, hieß es aus dem großdeutschen Kollektiv.

Selbst unser schönes Stadtteilfest stand diesmal unter dem Stern der WM, da parallel das Viertelfinale lief. Ob man erfahren will, dass Menschen, mit denen man quasi Tür an Tür lebt, bei Ereignissen wie diesem tadellos die erste Strophe des Deutschlandlieds singen können, ist eben doch die Frage. Später dümpelten sie dann glasigen Blicks in den Fleeten, und ihr neandertalerartiges Gegröle verebbte erst bei Morgengrauen…

Kein Grund zur kollektiven Depression also. Löws Mannschaft ist die drittbeste der Welt und Jogi kriegt vom ganz frischen Bundespräsidenten das Bundesverdienstkreuz mit Eichenlaub und Schwertern – dabei sein ist schließlich alles.

Sehen wir es positiv und freuen uns auf ruhige Nächte ohne hupenden Autokorso. Auch der Anblick von Endzwanzigern mit Bierbauch, die noch nie ein Fitnessstudio von innen gesehen haben, dafür aber überzeugt herumtönen, wir machen sie heute Abend platt, schließlich sind wir stärker, bleibt uns die nächsten vier Jahre erspart.

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