Gastautor / 27.04.2012 / 13:06 / 0 / Seite ausdrucken

Nachhaltig unsinnig

Hans Dieter Sauer

Nachhaltigkeit hat sich in den beiden letzten Jahrzehnten als Leitbild für die Gestaltung der Welt etabliert. Doch tatsächlich bietet der Begriff keine Orientierung. Im Gegenteil: Er verhindert zukunftsweisende Technik.

Spricht ein Politiker, Manager, Umweltaktivist, Kirchenmann oder auch Wissenschaftler über die Zukunft, wird er oder sie unweigerlich das Wort ‚nachhaltig’ in den Mund nehmen. Die Entwicklung, auf welchem Gebiet auch immer, müsse in eine nachhaltige Richtung gelenkt werden. Auch die Literatur zum Thema ist schier unübersehbar geworden. Auf das Stichwort „Nachhaltigkeit liefert die Suchmaschine der ETH Zürich aktuell nicht weniger als 4282 Treffer, wöchentlich werden es mehr. Die Bayerische Staatsbibliothek steht dem kaum nach. Bei ihr werden gegenwärtig 4034 Titel angezeigt.

Geprägt wurde der Begriff 1987 in der ‚Weltkommission für Umwelt und Entwicklung’ unter Leitung der damaligen norwegischen Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland. In dem Bericht ‚Our Common Future’ (Unsere Gemeinsame Zukunft) wurde postuliert, Massenarmut und globale Umweltkrisen liessen sich nur durch eine ‚dauerhafte Entwicklung’ lösen (So lautete noch die erste Übersetzung von ‚sustainable development; der aus der deutschen Forstwirtschaft stammende Begriff ‚nachhaltig’ setzte sich erst später durch). Verstanden wurde darunter „eine Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können.“

Der inzwischen emeritierte Ökonom Wilfred Beckerman von der Universität Oxford kritisierte von Anfang an, dass ‚nachhaltige Entwicklung’ à la Brundtland ein unscharfer, verschwommener Begriff ist. Bedürfnisse, selbst die sogenannten Grundbedürfnisse, seien sehr subjektiv und abhängig vom jeweiligen Zivilisationsniveau. Folglich sei es ziemlich aussichtslos, die Entwicklung der Welt danach steuern zu wollen, gegenwärtige und noch unbekannte zukünftige Bedürfnisse in Einklang zu bringen. Der Blick zurück zeigt, dass es tatsächlich ein Ding der Unmöglichkeit ist. Wie hätten unsere Vorfahren ihre Bedürfnisse im Hinblick auf unsere regulieren sollen?

Eine andere Interpretation der Brundtland-Definition beruft sich auf ethische Prinzipien. Risiken wie der Klimawandel, die Gefahren der Kernenergie oder der Artenschwund verlangten gebieterisch, unseren Bedürfnissen Grenzen zu setzen, um nicht die Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen zu gefährden. Wo aber verlaufen die Scheidelinien, die nicht überschritten werden dürfen? Radikaler Klimaschutz hiesse, umgehend auf fossile Energie zu verzichten - und damit die Menschheit ins Verderben stürzen. Es geht also darum, einen Weg zu finden, der den heutigen Menschen zu leben erlaubt und kommenden Generationen nicht die Existenzgrundlage raubt. Fundamentale, ethisch begründete Positionen, führen da schnell in die Irre. Gefragt sind vielmehr wissenschaftliche, technische und ökonomische Expertise.

Ungeachtet seiner intellektuellen Schwäche wurde Nachhaltigkeit 1992 in Rio de Janeiro bei der Konferenz der Vereinten Nation zu ‚Umwelt und Entwicklung’ zum Leitbild für die Gestaltung der Welt erhoben. In der ‚Rio-Deklaration’ verständigten sich die 172 versammelten Staaten auf 27 Grundsätze für eine nachhaltige Entwicklung. Im Kern geht es darum, die Armut zu beseitigen (Grundsatz 5) und die Gesundheit und Unversehrtheit der globalen Ökosysteme zu erhalten (Grundsatz 7).

In der Folge der Rio-Konferenz wurde nachhaltige Entwicklung 1999 in die neue Bundesverfassung der Schweiz aufgenommen (Artikel 2, Zweck der Eidgenossenschaft), ohne das eine präzisere Begriffsbestimmung erfolgt wäre. Dabei blieb es. In einer Broschüre des Bundesamtes für Raumentwicklung heisst es: „Eine nachhaltige Gesellschaft hinterlässt den künftigen Generationen die Welt so, wie sie sie angetroffen hat - oder besser.“ Dagegen lässt sich schlechthin nichts einwenden; nur, war es nicht von jeher das Bestreben aller Eltern, ihren Kindern eine bessere Welt zu hinterlassen.

Ob sich das Land nachhaltig entwickelt, wird mit dem System MONET (Monitoring der Nachhaltigen Entwicklung) anhand von über 100 Indikatoren verfolgt. Dazu gehören die CO2-Emissionen, die Siedlungsfläche, das Haushaltseinkommen, der Brutvogelbestand, die Lesefähigkeit der Jugendlichen,  die sportliche Aktivität der Bevölkerung, die Entwicklungshilfe, das Defizit der öffentlichen Haushalte und vieles mehr. Die angestrebten Entwicklungen in diesen Bereichen liessen sich aber ebenso gut aus den anderen Verfassungsgrundsätzen von Artikel 2 ableiten, als da sind; gemeinsame Wohlfahrt, innerer Zusammenhalt, kulturelle Vielfalt, Chancengleichheit, dauerhafte Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen, sowie eine friedliche und gerechte internationale Ordnung. Was nachhaltige Entwicklung darüber hinaus leisten soll, erschliesst sich nicht.

Auch ein Buch, das gewisse Erwartungen weckt, liefert keine Antworten. Im letzten Jahr haben das von ETH und Universität Zürich getragene Collegium Helveticum, ein Laboratorium für Transdisziplinarität, und WIRE, der Think Tank der Bank Sarasin, im NZZ Verlag das Buch ‚Domino – Handbuch für eine nachhaltige Welt’ herausgebracht. Darin werden 210 Ideen vorgestellt, „um die Welt besser zu machen“, darunter so revolutionäre Vorschläge wie, im Büro doch mal ein Nickerchen zu machen. Eine andere Erklärung für Nachhaltigkeit als die Brundtland-Definition bieten auch diese beiden Denkfabriken nicht, stattdessen Sentenzen wie, der Mensch stehe im Zentrum, Nachhaltigkeit sei ganzheitlich zu betrachten und bedeute Zukunftsfähigkeit.

Nachhaltigkeit ist allerdings nicht nur ein Sammelbegriff für alle denkbaren Aktivitäten zur Weltverbesserung, sondern es gibt ihn auch in doktrinäre Auslegung, indem bestimmte Techniken von vornherein als nicht-nachhaltig gebrandmarkt werden. Dazu zählt insbesondere die Grüne Gentechnik. Von Nachhaltigkeitsfonds, die Geld in die richtige nachhaltige Richtung lenken sollen, ist sie ausgeschlossen.

Für Ingo Protykus, Emeritus der ETHZ, ist das unverständlich. Er hat schon um 2000 in Kooperation mit Peter Beyer von der Universität Freiburg (Schweiz) den sogenannten Golden Rice entwickelt, der Vitamin-A-Mangel behebt und so die Kindersterblichkeit senkt. Gegen viele Widerstände – Greenpeace lancierte einen millionenschwere Kampagne gegen seine Einführung - wird er voraussichtlich ab 2013 endlich in Asien zum Einsatz kommen. Ein anderer Fall für den Nutzen von Gentechnik ist insektenresistente Baumwolle, die bereits von Millionen Kleinbauern eingesetzt wird. Matin Qaim von der Universität Göttingen hat durch umfassende Feldstudien in Indien nachgewiesen, dass sich dadurch der Einsatz von Insektiziden verringert und die Erträge steigen.
Die Bank Sarasin, ein führender Anbieter von Nachhaltigkeitsfonds, begründet den Ausschluss von Gentechnik damit, dass gentechnische Eingriffe in das Erbgut von Pflanzen aus ethischer Sicht als bedenklich angesehen werden. Damit gibt sie sich päpstlicher als der Papst. Die Päpstliche Akademie der Wissenschaften hat sich nach einer Studienwoche im Mai 2009 ausdrücklich für den Einsatz von transgenen Pflanzen zur Ernährungssicherung ausgesprochen. Ausserdem begründet die Bank ihre Skrupel mit der mangelnder Akzeptanz von gentechnisch veränderten Lebensmittel in Europa. Das empört Potrykus. Die Fondsmanager von Sarasin und anderen Banken sollten mehr Rückgrat zeigen und sich nicht der Stimmungsmache der Gentechnik-Gegner beugen. 

Am Paul-Scherrer-Institut, dem größten Forschungsinstitut für Natur- und Ingenieurwissenschaften der Schweiz, geht Stefan Hirschberg seit 20 Jahren der Frage nach, was ein nachhaltiges Energiesystem ausmacht. Nach seinen Untersuchungen schneidet die Kernenergie nicht schlechter ab als die erneuerbaren Energien. Kohle ist stark klimabelastend, könnte aber durch die CCS-Technik, also die Abtrennung und Speicherung von CO2, erheblich verträglicher gemacht werden. Nach diesen Ergebnissen wäre eine Energiestrategie nachhaltig, die alle Optionen nutzt, indem sie die erneuerbaren Energien ausbaut, Reaktoren mit noch höherer Sicherheit entwickelt und die CCS-Technik vorantreibt. Letzteres wäre vor allem mit Blick auf China und Indien wichtig. Diese Länder haben grosse Kohlevorkommen und werden sie weiterhin nutzen, um den Strombedarf ihrer wachsenden Riesenstädte zu decken.

Hischberg hat versucht, auch die Akzeptanz von Energietechnologien als Kriterium für Nachhaltigkeit heranzuziehen. Damit begibt man sich aber auf schwankenden Boden. Was nachhaltig ist, wird dann von der gerade vorherrschenden öffentlichen Meinung bestimmt. Wohin das führt, ist derzeit in Deutschland zu beobachten. Hals über Kopf wird der Ausstieg aus der Kernenergie vollzogen, gleichzeitig ist auch die CCS-Technik blockiert, weil CO2-Speicher dank der Agitation von Greenpeace als ‚tickende Zeitbomben’ wahrgenommen werden. Damit fällt Deutschland im Klimaschutz weit zurück. Dabei galt es bisher als ausgemacht, dass keine Zeit zu verlieren sei, da sonst irreversible Schäden drohten. 

Einen Freibrief für die Energiewende bekam Bundeskanzlerin Angela Merkel von der sogenannten Ethikkommission unter Leitung von Klaus Töpfer. Er war zur Zeit der Rio-Konferenz Umweltminister, leitete von 1998 bis 2006 das Umweltprogramm der Vereinten Nationen und ist jetzt Direktor des 2009 gegründeten Institute for Advanced Sustainability Studies (IASS) in Potsdam. Er gilt gemeinhin als oberste Instanz in Sachen Nachhaltigkeit. Noch vor der ersten Sitzung der Ethikkommission erklärte er via Bild am Sonntag: „Die Kernenergie bringt Risiken mit sich, die über das menschliche Maß hinausgreifen und die eine Herausforderung sogar für die Schöpfung darstellen.“

Fazit: Die Berufung auf Nachhaltigkeit führt dazu, dass eine wirksame Klimapolitik unterminiert und die Gentechnik diskriminiert wird. Damit kehrt sich das Prinzip gegen die eigenen in der Rio-Deklaration verankerten Grundsätze, die Beseitigung der Armut und den Schutz des Ökosystems der Erde. Eines der Bücher von Beckerman ist ins Deutsche übersetzt. Es hat den Titel ‚Ein Mangel an Vernunft’.

Der Autor ist freier Technik-Journalist.

Zuerst erschienen in der NZZ vom 15.4.2012

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