Manfred Gillner
Bundeskanzlerin Angel Merkel wurde gestern drei Stunden lang vom Untersuchungsausschuss des hessischen Landtags vernommen. Dieser soll klären, wer für die rechtswidrige Abschaltung des Atomkraftwerkes Biblis die Verantwortung trägt. Der Betreiber RWE hatte mit einer Schadensersatzklage über 235 Millionen Euro vor dem Bundesverwaltungsgericht Recht bekommen. Ähnliche Klagen anderer Kraftwerksbetreiber sind anhängig, es drohen Milliardenschäden für den Steuerzahler.
Man kann die Aussage von Merkel kurz fassen. Nicht sie und die Bundesregierung, sondern die hessische Landesregierung trage die Schuld, denn für die rechtliche Umsetzung des im März 2011 von ihr initiierten AKW-Moratoriums seien die Länder zuständig. Wie bislang noch in jeder Krise traf Merkel nach dem Fukushima-Unglück hysterisch und unüberlegt eine Entscheidung, für die sie nun hinterher nicht verantwortlich sein will. Es ging dabei nicht um die Sicherheit von Kernkraftwerken, sonst hätte man konsequenterweise sofort alle abschalten müssen, sondern um die bevorstehende Landtagswahl in Baden-Württemberg. Man wollte rasch ein Zeichen setzen, um dem drohenden Stimmungsumschwung entgegenzuwirken.
Was sich damals im Kanzleramt abspielte, schildert der ehemalige Bundesvorsitzende der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung der CDU/CSU Dr. Josef Schlarmann. Die politische Führung in Berlin habe auf die Katastrophe unverzüglich „mit hektischer Betriebsamkeit“ reagiert. Bundesumweltminister Norbert Röttgen richtete noch am Unglückstag einen Krisenstab ein. In Stuttgart wartete Ministerpräsident Mappus nervös auf politische Signale aus Berlin, denn Wahlkämpfer hatten über Verunsicherung in der Bevölkerung berichtet.
Bei einem Treffen von Politikern der schwarz-gelben Koalition wurde die wenige Monate zuvor beschlossene Verlängerung der Laufzeiten gekippt. Außerdem sollten demonstrativ einige Kraftwerke sofort vom Netz genommen werden, um den Menschen zu signalisieren, dass man ihre Sorgen ernst nehme. Damit war das „Moratorium“ geboren, das zur Stilllegung von sieben älteren Atomkraftwerken führte.
Man war sich darüber im Klaren, dass die Stilllegung der Meiler rechtswidrig sein könnte und suchte nach Gründen, wie sich ein Abschalten rechtfertigen ließe. „Wir lassen die Länder nicht im Regen stehen“, soll die Kanzlerin bei einem Treffen den CDU-Ministerpräsidenten im Hinblick auf die mögliche Rechtswidrigkeit und Schadensersatzforderungen versichert haben. Im Untersuchungsausschuss mochte sie sich nun allerdings an eine solche Zusage nicht mehr erinnern.
Norbert Röttgen versprach den Anwesenden einen Entwurf eines „quasi unterschriftsreifen Stilllegungsbescheids“. Als dieser Entwurf bei der hessischen Landesregierung eintraf, befanden die zuständigen Fachbeamten die Begründung jedoch für unzureichend, schreibt Schlarmann. Da aber politisch entschieden war, dass die Stilllegungsverfügung „zum 18. März raus sein“ sollte, verfiel man auf eine ungewöhnliche Lösung: Die ganze Abteilung wurde von ihrer fachlichen Aufgabe entbunden und zu einem Büro für „qualifizierte Schreibarbeit“ herabgestuft.
Zu diesem unglaublichen Vorgang passen die Ausführungen von Merkel gestern im Untersuchungsausschuss. Allen sei „im Geiste der Gemeinsamkeit“ klar gewesen, dass man nach Fukushima „nicht einfach zur Tagesordnung” übergehen könne. Was man ohnehin schon ahnte, hat sie damit eindrucksvoll bestätigt. Wenn der „Geist der Gemeinsamkeit“ über Merkel und ihre Adepten kommt, dann sieht es für den Rechtsstaat düster aus.