Eigentlich geziemt es sich nicht, einen Film zu kritisieren, den man nicht gesehen hat. Kollegin Sophie Albers von der Netzeitung hat sich “Sicko” in Cannes zu Gemüte geführt (und sich anscheinend gut amüsiert), so daß ich auf deren Eindrücke zurückgreifen kann.
Von Anfang bis Ende unterhaltsame 123 Minuten bietet das neue Werk von Michael Moore, das in Cannes Weltpremiere feiert. [...]
«Sicko» erzählt von Krankenversicherungen, die aus reiner Profitgier kranke Kinder sterben lassen, Krebskranken die Therapie nicht bezahlen oder einem Hirntumor-Patienten im finalen Stadium sagen, das Ding in seinem Kopf sei nicht lebensgefährlich, also keine Operation nötig. [...]
Dem US-Status-Quo stellt Moore dann die staatliche Krankenversorgung in Kanada, Großbritannien und Frankreich gegenüber. Die malt er allerdings ziemlich rosa, was er damit verteidigt, dass sie immer noch unendlich viel besser sei als in seiner Heimat, die das staatliche Krankenkassensystem als kommunistisch verteufelt.
Ich weiß zu wenig über das Gesundheitssystem in Kanada und Frankreich, um mich hierzu fundiert zu äußern. Aber daß der NHS in Großbritannien ein komplettes Desaster ist, hat sich inzwischen auch hierzulande herumgesprochen. (Nicht zuletzt dank der Berichte meines geschätzten Kollegen Dr. Oliver Marc Hartwich, z.B. hier, hier, hier und hier.) Ich würde mich NIEMALS dieser Institution anvertrauen.
Absurder Höhepunkt des Films ist Moores Reise nach Kuba: Auch einst als Helden gefeierte Helfer nach den Anschlägen vom 11. September müssen sich mittlerweile von Krankenversicherungen wie Kriminelle behandeln lassen, verlieren Arbeit und Haus, um die Behandlungen für ihre zerstörten Lungen bezahlen zu können.
Weil das US-Militär sich rühmt, den Gefangenen von Guantanamo besonders umfassende medizinische Pflege angedeihen zu lassen, nimmt Moore die kranken, allein gelassenen Helden und bringt sie nach Kuba. So kommt es zu der großartigen Szene, in der die drei Boote vor der Bucht warten und Moore ins Megafon ruft: «Hallo, ein paar 9/11-Helfer möchten gerne in Ihre Klinik.»
Natürlich kommen sie nicht hinein, dafür genießen sie kurz darauf den Service des kubanischen Gesundheitssystems, das zu den besten der Welt gehört. Kranken wird geholfen, ohne vorher die Erlaubnis der Versicherung einzuholen, zeigt Moore.
Allerdings ist das absurd. Es mag in Kuba Kliniken geben, die einem Diego Maradona medizinsche Dienstleistungen auf hohem, internationalem Niveau bieten können. Und wer in Begleitung eines Kamerateams mit Michael Moore kommt, erfreut sich gewiss allerbester Gastfreundschaft. Der Alltag sieht anders aus. (Sehen Sie sich diese Bilder aus normalen kubanischen Krankenhäusern lieber nach dem Essen an.)
Und wenn eine chronisch kranke Frau anfängt zu weinen, weil sie erfährt, in welchem Ausmaß sich die Pharma-Industrie und die Versicherungen in ihrem Land an ihr bereichern, ist das schon ein sehr trauriger Augenblick.
Das stimmt sicher, hierbei sollte der europäische Zuschauer beachten: Gar nicht so indirekt bereichern sich vor allem die Patienten in Frankreich, England, Kanada und dem Rest der Welt an dieser armen Frau und ihren Landsleuten, die mit weitem Abstand die höchsten Medikamentenpreise weltweit zahlen - und damit de facto den Rest der Abnehmer subventionieren.
Vielleicht beantragt Moore ja bald Asyl in Frankreich, scherzt ein französischer Kollege beim Hinausgehen.
Daß er es bekommt, möge Sarkozy verhindern - ich wohne nur 60 Km. von der Grenze entfernt!
Sophie Albers’ ganzen Artikel in der Netzeitung gibt es hier.