David Harnasch / 07.12.2014 / 22:03 / 6 / Seite ausdrucken

Eine nationale Schande

SPON: “Zum Ende der Isaf-Mission wurden erwartungsgemäß viele Ortskräfte gekündigt, und ohne Zweifel besteht ein direkter Zusammenhang mit dem sprunghaften Anstieg der sogenannten Gefährdungsanzeigen. Viele Afghanen sehen darin die einzige Möglichkeit, das Land zu verlassen. 1197 solcher Anzeigen sind bisher bei der Bundeswehr eingegangen. Teams der jeweiligen Bundesbehörden entscheiden dann in Camp Marmal darüber, wie groß die Bedrohung für die sogenannten Ortskräfte tatsächlich einzuschätzen ist, die seit 2001 zu Tausenden als Übersetzer, Bauarbeiter, Hilfskräfte und eben auch als Journalisten für die Deutschen arbeiteten. Zu Spitzenzeiten waren es 1700 allein bei der Bundeswehr. [...]

Danach bestand bei 45 Afghanen ‘akute Gefahr für Leib und Leben’. Sie wurden sofort in die Bundesrepublik ausgeflogen. Bei 451 wurde eine ‘latente Gefahr’ festgestellt. 690 seien dagegen ‘keiner höheren Gefahr’ ausgesetzt als alle Menschen, die eben in einem Krisenland leben. Sie sollen bleiben.”

Wo bleibt der Aufschrei? Würde irgendein Privatunternehmen so mit seinen Angestellten umgehen, es würde völlig zu recht den Shitstorm des Jahrhunderts ernten. Vollkommen egal, ob unsere afghanischen Helfer in akuter oder abstrakter Gefahr sind: Es ist schlicht unmoralisch, sie zurückzulassen. Wir schulden ihnen Hilfe. Es ist auch nicht im Interesse Deutschlands. Da unsere Soldaten künftig vermutlich noch in anderen Ecken der Erde auf die Hilfsbereitschaft Einheimischer angewiesen sein werden, ist die Botschaft, die wir laut und vernehmlich senden sollten: “Wer uns hilft, dem helfen wir!”

Wenn ein afghanischer Helfer der Bundeswehr auf dem Amtsweg um Evakuierung bittet, beißt er auf Granit. Bezahlt er hingegen einen Schlepper, darf er mit einiger Wahrscheinlichkeit bleiben.

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Leserpost

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Laurenz Abrhein / 08.12.2014

Furchtbare Sache! Hauptsache den Beamtendünkel durchdrücken, wo es geht.. Am besten kommt man offenbar immernoch nach Deutschland im Kofferraum eines Schleuserautos. Im Fall der USA ist es nicht anders. John Oliver hat das recht gut dargestellt mit einem Eselvergleich: youtube -> last week tonight -> donkey Auf der anderen Seite muss man natürlich sagen, es gibt ein paar Nachbarstaaten, in welche die Leute erst einmal übergangsweise einreisen könnten. Usbekistan und Kirgisistan sind nicht soo gut, aber auch nicht soo furchtbar für den Übergang. Von dort aus kann man dann immer noch planen.. vieleicht mit Hilfe ehemaliger dt. Afghanistanveteranen, mit denen sie zusammen gedient haben.

Markus Weber / 08.12.2014

Sehr geehrter Herr Harnasch, haben Sie vielen Dank für Ihren guten Artikel. Ich sehe das mit dem Demokratie-Export des Westens zwar nicht so ungetrübt, wie das bei Herrn Dr. Radisch klingt, aber ich denke ebenfalls, dass man Kontraproduktiveres tun könnte, als diejenigen, die loyal waren, auch so zu behandeln. Wenn diese nämlich dann zum ersten Mal an einer Drehbank oder an einem Operationstisch stehen (ich kannte im Frankfurter Raum einen Taxifahrer aus Afghanistan, der mir sein Leid klagte, er bekomme in Deutschland keine Zulassung, aber er sei Arzt), kann sich auch die Meinung der Europäer über die “Hinterwäldler aus Baktrien” neu formieren. Dies sind wichtige Chancen für beide Seiten. Also nochmals: Bravo!

Karl Helger / 08.12.2014

Stimmt, ist schon krass. Man denke an die ganzen Übersetzer, Zulieferer und Helfer der USA nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland. Die mussten ja auch ganz viele mitnehmen, weil die alle Todesdrohungen bekommen haben. Ach nee, war ja anders, wir sind ja irgendwie anders drauf als die Afghanen. Von den Afghanen denkt sich sicher keiner aus, er habe die Drohungen bekommen um einfach aus dem Sch….och herauszukommen. Und wie man an den “green on blue”-Attacks sieht, ist ja jeder Afghane per se vertrauenswürdig. Dank an dieser Stelle an die Bundeswehr, nicht jeden muslimischen Analphabeten und Möchtegernterroristen nach Deutschland zu holen! Ist ja nicht so, als ob wir zuwenige hier hätten.

Max Wedell / 08.12.2014

Wie wir ja wissen, ist in ganz Afrika ein menschenwürdiges Leben praktisch nicht möglich, weil die Menschen fast überall nichts zu essen haben, fast überall unter Kriegen leiden, und kaum einmal gibt es Arbeit oder sonstige Möglichkeiten, sein Überleben zu sichern. Dieses ausgesprochen dämliche Afrikabild, daß erschreckend viele Menschen hierzulande pflegen, hat jetzt einen kleinen Bruder bekommen… In ganz Afghanistan machen Taliban Jagd auf Kollaborateure mit dem Westen, und sobald der Westen seine Truppen dort abzieht, sind diese Leute praktisch morgen tot. Wer von solchem Unsinn wirklich überzeugt ist, sollte sich erstmal über die dortigen Verhältnisse informieren. Afghanistan ist ein Sammelsurium aus verschiedenen Völkergruppen, und eine verbreitete Neigung, die Taliban zu unterstützen, gibt es lediglich bei den Pashtunen. Wenn die Taliban in Folge eines militärischen Rückzugs des Westens “nach Afghanistan” zurückkehren, bedeutet das nicht, daß sie ganz Afghanistan kontrollieren werden (das hatten sie auch nicht in der Zeit nach dem sowjetischen Rückzug geschafft), sondern ihnen wird in den Stammesgebieten der Hazara, Tadschiken und Usbeken starker Widerstand entgegenschlagen. Die Gefährdungslage von Helfern des Westens ist also tatsächlich eine ganz unterschiedliche… Pashtunen aus dem Süden bzw. Osten sind stark gefährdet, die persischsprachigen Völker im Westen sind weit weniger gefährdet, und die tadschikischen Helfer im Norden sind kaum gefährdet… jedenfalls nicht gefährdeter als eben Menschen in einem solchen Krisenland nunmal generell sind, egal ob sie dem Westen halfen oder nicht. Durch die Stationierung der Bundeswehr in Mazar-i-Sharif ganz im Norden war naturgemäß ein hoher Prozentsatz ihrer Helfer Personen mit zentralasiatischem ethnischem Hintergrund. Die Meldungen der Bundeswehr, in “ihren” Gebieten habe man die Lage unter Kontrolle, die vom Anfang ihres Einsatzes an regelmäßig zu hören waren, hatten einen mehr als leichten Anstrich des Lächerlichen, denn die Bekämpfung der Taliban im Norden hatten die Tadschiken schon erledigt… dann kam die BW da hin und meldete stolz: Wir haben alles unter Kontrolle! Toll! Gut, daß niemand gefragt hat, wieviel Schüsse überhaupt abgegeben werden mussten, um diese Kontrolle zu erringen… Wer heute im Norden Afghanistans, in Mazar-i-Sharif oder Umgebung, sich als Helfer des Westens an Deutschland wendet, mit der Bitte um Auswanderung, bei dem kann man davon ausgehen, daß es sich um einen Wirtschaftsflüchtling handelt, und nicht um einen Flüchtling vor einer auch nur halbwegs vorhandenen, halbwegs akuten Gefahr durch Taliban… denn die Taliban hatten dort niemals einen Rückhalt in der Bevölkerung, haben ihn auch heute nicht, und werden ihn auch so schnell nicht bekommen. Ich bin froh, daß die zuständigen Behörden hier eben auch tatsächlich gestaffelt nach der Gefährdung vorgehen und nicht davor zurückschrecken, die Übersiedlung von Menschen auch abzulehnen, wenn praktisch keine erhöhte Gefährdung besteht. Es ist mir aber auch klar, daß Menschen, die der Meinung sind, morgend würden die Taliban ganz Afghanistan überrennen (oder gar, daß sie das schon längst getan hätten), das nicht verstehen können.

Sebastian Siewert / 08.12.2014

Man sollte bei dieser Debatte allerdings auch nicht vergessen, das “wir” dort auch als Gast der afghanischen Regierung waren und ebenjene sich auf vielen Ebenen mit Händen und Füssen gegen jedes Angebot der Evakuierung verwahrt hat. Diesen Willen gilt es auch zu akzeptieren. Es ist eine Zwickmühle. Auf der einen Seite ist es das Signal, das man Schutzbedürftige nicht im Regen stehen lässt, allerdings auf der anderen Seite auch auf wohlgesonnene Gastgeber angewiesen ist, die sich eben nicht übergangen fühlen dürfen, weil der Gast eh macht, was er will. Dieses Konto ist mittlerweile reichlich genug belastet.

Dr.Hans-Joachim Radisch / 08.12.2014

Wenn es je ein überzeugendes Auswahlverfahren für Immigranten oder Asylanten gab, dann doch wohl der jahrelange qualifizierte Einsatz für die deutschen Streitkräfte in Afghanistan und die demokratische Sache. Wie wollen wir jemals überzeugtere Neubürger für Deutschland finden wenn nicht jene Afghanen, die seit Jahren ihr Leben für Deutsche und westliche Werte riskieren. Die Beamten, die Anträge dieser afghanischen Helden auf Aufenthalt in Deutschland zurückweisen, sollten umgehend eine Dauerbelastung mit ihren Familien an deutsche Konsulate in Afghanistan bis zu ihrer Pensionierung erhalten, damit sie so überzeugend die völlige Ungefährlichkeit des Lebens dort für Menschen mit westlichem Lebensstil und -idealen durch ihr persönliches Beispiel belegen können…

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