David Harnasch / 17.12.2014 / 15:03 / 3 / Seite ausdrucken

#IllPatronizeYou

Die Twitterkampagne #illridewithyou, bei der Australier ihren muslimischen Mitbürgern ihre Unterstützung versichern, ist symptomatisch für eine sympathische Eigenschaft westlicher Gesellschaften: Selbstkritisch nach Ungerechtigkeiten zu suchen und diesen idealerweise vorzubeugen. Wie Gideon Böss richtig schreibt, dienen solche Gratismut-Aktionen zwar primär der Selbstvergewisserung der Hashtaggenden, was aber per se auch nicht schlecht ist.

Einen schalen Beigeschmack hat das Phänomen dennoch. Erstens, weil die allermeisten Twitterer es unterlassen, sich mit den wirklichen Opfern des Geiseldramas zu solidarisieren, während sie sich mit den potenziellen Opfern einer potenziellen Reaktion auf das Geiseldrama solidarisieren. Zweitens, weil dabei eine gehörige Portion Paternalismus im Spiel ist. Bei SPON ist der Ursprung der, ähem, „Bewegung“ dokumentiert:

Eine andere Beobachtung teilte die Australierin Rachael Jacobs über Facebook: “...Und die (mutmaßlich) muslimische Frau, die neben mir im Zug sitzt, nimmt still ihr Kopftuch ab”, schrieb sie. “...Ich bin ihr am Bahnhof hinterher gerannt. Ich sagte: ‘Setzen Sie es wieder auf. Ich werde mit Ihnen gehen.’ Sie fing an zu weinen und hat mich eine Minute lang umarmt - dann ist sie allein weitergelaufen.”

Ich bin ein ziemlich durchschnittlicher Deutscher – sprich: Ich schäme mich oft und aus guten Gründen für meine Nationalität. Als Tourist versuche ich möglichst untouristisch auszusehen, wenn ich von Einheimischen nach dem Weg gefragt werde, ist mir das genauso ein Fest wie den allermeisten meiner Landsleute, die sich auch unbedingt perrfekt in jede Gastkultur einfügen möchten. Und die –genau wie ich - andere deutsche Touristen tendenziell peinlich finden und weiträumig meiden. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie es ist, sich eines Aspekts der eigenen Identität so peinlich bewusst zu sein, dass man ihn gerne mal verleugnet.

Wäre es vielleicht denkbar, dass die (mutmaßlich) muslimische Frau, die neben Jacobs im Zug saß, das Kopftuch abnahm, weil ihr peinlich ist, was zeitgleich im Namen ihrer Religion geschah und in allen Nachrichten zu sehen war? Ist es irgendwie im Bereich des Möglichen, dass die (mutmaßlich) muslimische Frau eigenverantwortlich entschieden hat, sich in diesem Moment ein wenig von diesem Teil ihrer Identität zu emanzipieren – aus Scham, und nicht, weil sie eine Bedrohung empfindet? Nein? Wieso bedarf eine mutmaßliche Muslima der paternalistischen Fürsorge von Frau Jacobs, wenn sie ihr Kopftuch abzieht? Wenn Frau Jacobs den Buddhismus für sich entdeckt und im Zuge dieser neuen Begeisterung entscheidet, künftig keinen Davidstern (denn bei dem Namen ist sie so mutmaßlich jüdisch, wie die Muslima wegen des Kopftuchs mutmaßlich islamisch ist) mehr als Kettenanhänger zu tragen, will sie dann, dass ich ihr hinterherrenne und ihr versichere, sie gegen Antisemitismus zu verteidigen? Oder würde sie das als eine massive Einmischung in höchst private Entscheidungen verurteilen? Was für ein Bild hat Frau Jacobs von muslimischen Frauen? Und was für ein Bild haben die von sich selbst?

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Leserpost

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Eugene Seidel / 18.12.2014

P.S.: Die katholischen Inder (die man besonders in und um Goa findet—Folge der einstigen portugiesischen Kolonialherrschaft) geben ihren Kindern gern biblische Namen wie Rachael. Als Kind indischer Einwanderer und Lehrbeauftragte an einer katholischen Universität würde ich für sie nicht unbedingt einen jüdischen Hintergrund annehmen.

Eugene Seidel / 18.12.2014

Frau Jacobs hat ihre Story inzwischen “revidiert”: http://www.brisbanetimes.com.au/queensland/how-illridewithyou-began-with-rachael-jacobs-experience-on-a-brisbane-train-20141216-128205.html Viel bleibt, nach ihrer eigenen Aussage, nicht von ihrer heldenmütigen Tat übrig; eigentlich nichts. Und hier Tessa Kum, die von Frau Jacobs inspirierte Urheberin des #illridewithyou-Hashtags, in ihrer eigenen Schreibe: http://silence-without.blogspot.com.au/2014/11/the-long-campaign-against-racism-bogged.html Nach Lektüre dieser deliranten Hasstirade (nicht alles, irgendwann wurde es mir zuviel) frage ich: Ob Frau Kum wohl bald eine wirksame Therapie bekommt? Man wünscht es ihr. Schließlich der unersetzliche Mark Steyn: http://www.steynonline.com/6711/i-wish-that-bird-would-fly-away

Martin Wessner / 17.12.2014

“Wieso bedarf eine mutmaßliche Muslima der paternalistischen Fürsorge von Frau Jacobs, wenn sie ihr Kopftuch abzieht?” Mmmmh. Nun, möglicherweise, weil es befriedigend ist, sich als Vormund gegenüber seinem Mündel als überlegen zu fühlen? Frau Jacobs ist vielleicht nicht stolz darauf Australierin zu sein, wohl aber darauf, wie es scheint, ein guter Mensch zu sein, denn ansonsten hätte sie dem narzistischen Impuls gewiss widerstanden, alle Welt ihre moralische “Großtat” auch noch auf Facebook zu verkünden, gell?!

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