Eran Yardeni, Gastautor / 18.08.2013 / 11:23 / 6 / Seite ausdrucken

Jetzt ist Europa dran

Als Jude fühle ich mich meiner historischen Rolle als der ewige Sündenbock der Geschichte der Menschheit beraubt. Völlig unberechtigt finde ich, vor allem weil wir immer da waren, wo man uns nur brauchte – gar kein Ort war für uns zu weit, gar keine Arbeit zu schwer und keine Aufgabe zu gefährlich: Ob Erdbeben, Epidemien, Kriege, Bürgerkriege, Finanzkrisen, innenpolitische Katastrophen und Vulkanausbrüche – wir standen immer zur Verfügung. Einmal bereit, immer bereit!

Wir, die notwendige Begleiterscheinung eines jeden Übels, waren da, als Jesus gekreuzt wurde, als der schwarze Tod Europa überrollte, als das globale Finanzsystem kollabierte und als im Namen Allahs das World Trade Center dem Erdboden gleich gemacht wurde.

Schlachteten die Araber sich gegenseitig ab? Stand eine Ölkrise bevor? Unterdrückten die Diktatoren im Nahen Osten ihre Völker? Haben die Palästinenser der Hamas die Macht in die Hand gedrückt?  Man musste uns nicht mal anrufen, wir waren schon vor Ort, um die Schuld auf uns zu nehmen.

Nach so vielen Jahren haben wir viele Erfahrungen gesammelt. Wie sind in diesem Bereich Experten geworden, was uns wiederum ein bisschen übermütig gemacht hat. Wir fühlten uns zwar ständig bedroht, dafür aber total überlegen.
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Man konnte uns foltern und töten, uns enteignen, unsere Städte niederbrennen und zerstören, die Schuld aber, so haben wir gedacht, bleibt uns auf ewig erhalten. Ironischerweise haben wir angefangen, die Schuld als eine Art von Lebensversicherung zu betrachten.

Auch wenn man uns als Einzelne loswerden wollte, brauchte man uns unbedingt als gesellschaftliches Phänomen. 

Jetzt aber scheint es, dass wir durch einen neuen Konkurrenten herausgefordert werden. Dieser Konkurrent – so ironisch kann nur das Schicksal sein - war vorher unser Peiniger und Henker. Die Narben, die unseren Rücken dekorieren, stammen vor allem von seiner Hand, besser gesagt – von seiner Peitsche. Aber so passiert es manchmal, dass der Protagonist und der Antagonist ihre Rolle wechseln wollen, dass der Sadist sich in die Rolle des Masochist hineinversetzt. Und jetzt ist Europa dran.

Bleibt Europa gelassen und zurückhaltend, während in Kairo und Damaskus Menschen wie Fliegen getötet und vergewaltigt werden – wird ihm vorgeworfen, an dem Tot der Unschuldigen mitschuldig zu sein. Mischte es sich aber ein, würde man sofort über einen brutalen kulturellen Imperialismus des Westens sprechen.

Wer die Zurückhaltung Europas angesichts der Nebenwirkungen des arabischen Frühlings als „zynisch“ bezeichnet, der würde auch jede Intervention in die Angelegenheiten arabischen Völker als zynisch bezeichnen, denn schließlich ginge es dem Westen angeblich nur um Macht, Öl und andere Interessen, die mit Humanismus und Menschenrechten gar nichts zu tun haben. 

Im dieser No-win-Situation macht Europa das einzig Richtige, und zwar gar nichts.

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Leserpost

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Markus Weber / 20.08.2013

Es stehen zehn schlimme Dinge im Raum. Sieben davon werden mir zum Vorwurf gemacht, allerdings nur der kleinste Teil, sagen wir: zwei, davon zurecht. Die anderen drei sind zu absurd, als dass sie überhaupt Menschen vorgeworfen werden könnten. Jetzt zu sagen “Klar, Leute kommt, werft mir die drei absurden Dinge doch auch noch gleich mit vor! Ich habe breite Schultern und ein dickes Fell, ich weiß damit umzugehen, ich werde die Vorwürfe tragen können. An die Rolle des Sündenbocks gewöhnt man sich mit der Zeit”, ist nicht mehr als eine Spielart, Schuldigkeit pauschal von mir zu weisen, d.h. auch die ganze Auseinandersetzung darüber, an welchen Dingen ich mich tatsächlich mit negativen Beiträgen beteiligt habe, zu vermeiden. Undifferenziertheit ist ein besonderes zweischneidiges Schwert: einmal nach rechts ausgeholt und dann nach links zurück durch die Menschenmenge geschwungen, dann sind tatsächlich alle Köpfe ab. Muss aber so gewollt sein vom Augenblick an, da man beide Seiten schärft. Warum sprechen wir vom Islamismus und nicht einfach nur vom Islam? In der begrifflichen Differenzierung steckt die Erwartung nach Abgrenzung. Was wir in Europa vermissen, ist der lautstarke Protest unserer moslemischen Zuwanderer gegen jede Intoleranz und gegen jede, auch ihre hauseigene, religiöse Verblendung. Ich meine, wir erwarten dies zurecht. Ahmed, der Rinderschächter wäre dann gut, und Ahmed, der Kinderschlächter, bleibt schlecht. Indessen erlaubt sich Herr Yardeni, platt von den"Juden” zu schreiben, die sich an die Rolle des Sündenbocks (i.e. des kategorisch zu unrecht Beschuldigten) gewöhnt hätten. In den Augen derjenigen Nichtjuden, die dieses Völkchen auch nie nach Kohorten unterschieden haben, stimmt dies ja vielleicht sogar. Aber wenn die Siedler in der Westbank die israelische Staatsbürgerschaft haben, sind deshalb alle Israelis Siedler oder mit den Siedlern einig? Wenn im US-Kongress und in den hohen Regierungsämtern tüchtige und verdiente Leute mit israelischem Pass sitzen, sind dann alle Israelis mit deren Tun einverstanden? Sind Israelis sowieso verkappte US-amerikanische Lobbyisten? Sind alle Israelis bei den IDF? Sind alle Angehörigen der Streitkräfte Funktionäre des Mossad? Ist der Mossad LAKAM? Wollen alle israelischen Jungs später mal ein Naftali Bennett werden, der keine Probleme damit hat, ein paar Araber umzubringen? Doch wohl eher nicht. Diese Unterscheidungen fielen alle viel weniger schwer, wenn sich die gemässigten säkularen Israelis öffentlich lautstärker von den Taten ihrer Extremisten abgrenzen könnten. Die Schuldvorwürfe könnten dann gezielt formuliert werden. In pauschaler Form sind sie stumpf wie der ausgestreckte Finger einer Hand, deren andere vier Finger auf den zurückverweisen, der da die Hand streckt. Wahrscheinlich leben so ziemlich in jedem Land der Erde Mittäter von 9/11. Es ist Aufgabe der deutschen Justiz diejenigen in Deutschland ausfindig zu machen und einer der Schwere ihrer Taten angemessenen Strafe zuzuführen. Mutatis mutandis gilt dies auch für den Iran, für Saudi Arabien, für die USA,... und auch für Israel. Ungemütlich wird es, wenn eine Regierung diese Mittäter protegiert und auch noch von der Bevölkerung als clevere Helden feiern lässt. In Deutschland ist dies nicht geschehen, allerdings brauchte die Justiz Hilfe von außen, um einen ersten Teil der Täter als solche zu identifizieren - aber da war es schon zu spät. Mutwilligkeit in der deutschen Justiz und im deutschen Geheimdienst nicht ausgeschlossen. Weiteres Aufdröseln wäre hilfreich. Alles andere ist Protektion.

Andreas Glaesel / 20.08.2013

Mal eine ganz blöde Frage: Warum soll Europa überhaupt zu allem und jedem überall auf der Welt etwas sagen und unternehmen? Diese Denkweise entspringt der ethnozentristisch-egoistischen Meinung, daß alle Welt so zu leben hat, wie der europäische Mainstream es sich vorstellt. Demokratie, Menschenrechte, freie Wahlen, Gewaltenteilung… ja Pustekuchen, was, wenn die Menschen in Syrien oder Ägypten das gar nicht wollen? Weil es nicht ihrer Kultur, Lebenserfahrung und Selbstverständnis entspricht? Wie würden Deutsche, Franzosen oder Engländer denken, wenn arabische Parlamentarier entscheiden, daß in Berlin, Paris und London in Zukunft die Scharia zu gelten habe, nur weil es in Riad zur Staatsraison gehört? Oder die Eskimos in der Arktis einen Militärschlag gegen Brüssel androhen, wenn sich ab sofort nicht alle Europäer von rohem Fisch ernähren? Wahrscheinlich genau das gleiche was der Ottonormalverbraucher in Kairo und Damaskus bei Westerwelles Worthülsen denkt. Also bitte…

James Taylor / 19.08.2013

Europa kann und muss nichts mehr machen, weil alle Fehler, die begangen werden konnten, bereits stattgefunden haben. Das Schweigen Europas zu dem, was in der Welt an welchem Ort auch immer schief läuft, entspringt darüber hinaus dem einzigen Merkmal, das Europa verbindet: Wirtschaft. Das Jammern, ob Europa sich zu den Vorgängen in Syrien (oder einem anderen arabischen Land) äußert oder nicht, besteht deshalb und in der Logik dieses Zusammenhangs vollständig aus einer veritablen Fata Morgana. Ob Europa sich äußert, etwas sagt und diskutiert, ob es sich einmischt oder eine Meinung besitzt, ist in etwa so relevant wie der berühmt berüchtigte Reissack in China.

Martin Temme / 18.08.2013

Es ist in der Tat eine No-Win-Situation. Und zwar noch unter einem anderen Aspekt: Soll Europa z.B. aktiv am Sturz Assads mitwirken und damit den Islamisten zur Macht verhelfen? Oder soll Europa die islamistischen Rebellen in Syrien bekämpfen und damit einen brutalen Diktator stützen? Oder einen “Zwei-Fronten-Krieg” gegen beide führen und damit scheitern, weil es dort einfach nicht genug Menschen mit demokratischen und nichtislamistischen Ansichten gibt? Wie soll sich Europ entscheiden, wenn nur die Wahl zwischen zwei Übeln besteht? Soll Europa Muslimbrüder und Salafisten in Ägypten gewähren lassen, weil diese über die Mehrheit verfügen? Oder nicht vielleicht doch besser das ägyptische Militär bei der Unterdrückung dieser beiden Richtungen unterstützen? Der Sturz arabischer Dikatoren hat leider bisher noch nie zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in den arabischen Ländern geführt: Irak, Tunesien, Libyen, Ägypten… Der “arabische Frühling” ist nichts anderes als ein Frühling der Islamisten. Dabei zeigt u.a. das Beispiel Ägypten, dass der Islamismus kein Randphänomen einer kleinen Gruppe von Radikalen ist, wie politisch korrekte Berufsbeschwichtiger im Westen uns weismachen wollen, sondern eine erschreckend große Masse der islamischen Bevölkerung entsprechende Überzeugungen teilt.

Paul Jonas / 18.08.2013

Europa macht gar nichts. Weder in den Ländern des arabischen dauerhaften Frühlings noch in Europa selbst und so ist der arabische Frühling auch bei uns eingezogen.

Dr. Nathan Warszawski / 18.08.2013

Werden nun Europäer für die nächsten zwei Jahrtausende verfolgt und ausgerottet?

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