Obwohl uns die Politiker am liebsten so sehen. Als Masse. Schon der Manipulierbarkeit wegen. Nein und tausendmal nein, niemand ist einfach ein Stück Masse, niemand ist wie jeder andere. Andernfalls wäre er austauschbar. Und das hieße, die uns eigene Einmaligkeit aufzugeben, mithin unser Ich. Sowieso passiert das irgendwann einmal, nämlich dann, wenn wir sterben. Ich jedenfalls, ich möchte bis dahin doch bitte ich selbst bleiben.
Zwar würde unsereiner gern die eine oder andere Eigenschaft von Menschen übernehmen, die man derentwegen bewundert. Aber mit dem Bewunderten tauschen? Wie sollte sich solch ein Tausch anfühlen, für den einen wie für den anderen, wie würde man das Ich des Anderen empfinden? Diese Frage führt zu einer anderen, einer zunächst trivial anmutenden, dennoch sehr bedeutsamen: Wer bin ich? Es ist eine der Schlüsselfragen der Philosophie. Befriedigende Antworten gibt es nicht, womöglich nie.
Dass ausgerechnet ich es war, der vor Jahren geboren wurde, ist reiner Zufall. Genauso gut könnte das irgendeine Schwester gewesen sein oder ein Bruder, und ich selbst hätte nie existiert, wäre eine Nicht-Existenz. Niemand hat auch nur die Spur einer Ahnung von solchen Nicht-Existenzen. Nirgendwo lässt sich ihre Existenz einklagen. Theoretisch könnte ein Elternpaar mehr als 8 Millionen Kinder zeugen, die sich allesamt voneinander unterscheiden. Nicht irgendwie, sondern genetisch. Wie das?
Jede unserer Zellen verfügt in ihrem Zellkern über 23 verschiedene Chromosomen, und von diesen gibt es jeweils 2 Sätze, insgesamt also 46. Den einen Chromosomensatz haben wir von unserer Mutter ererbt, den anderen vom Vater. Die zunächst noch unreife Ei- und Samenzelle, aus denen wir später hervorgegangen sind, haben während ihrer Reifeteilung jeweils eines von den zwei Chromosomen der 23 Chromosomentypen über Bord geworfen. Welches, ist rein zufällig. Damit verbleibt in reifen Ei- und Samenzellen von den einst 46 Chromosomen nur die Hälfte, also 23 Chromosomen, und zwar von jedem Typ eines. Nachfolgend vereinigen sich die so gereifte Ei- und Samenzelle, und das ergibt erneut die Anzahl von 46 Chromosomen. Dabei aber sind diese dem mütterlichen und väterlichen Erbgut entstammenden Chromosomen dem Zufallsprinzip entsprechend neuartig kombiniert worden. Genau 2 hoch 23 das ergibt 8.388.608 verschiedene Kombinationsmöglichkeiten – eine Art von Chromosomenlotterie also. Wenn man den zusätzlich möglichen Austausch von Stücken aus den mütterlichen und väterlichen Chromosomen hinzurechnet, tendiert für jedes Elternpaar die theoretisch mögliche Anzahl von genetisch verschiedenen Kindern ins Unendliche. Jedes von ihnen ist nicht jedes.
Gleich und doch nicht identisch
Obwohl wir Menschen über ein- und dieselben Gene verfügen, sind diese dennoch nicht identisch. Die molekularen Zustandsformen dieser Gene unterscheiden sich, die der DNA. Allele nennt man die differierenden Gene. Maßgeblich diese sind es, durch die sich die Menschen bei der Herausbildung ihrer äußeren und inneren Merkmale unterscheiden: Körperbau und -größe, Gesicht, Haarfarbe und -form, Augenschnitt und Farbe der Iris, Ohrmuscheln, Stimmlage, Hautfarbe, die Form der Hände und die der Nägel. Auch weniger evidente Unterschiede gibt es, solche im Bau der inneren Organe, in der Chemie des Blutes oder in Form spezieller Krankheitsneigungen.
Wie von Geisterhand gesteuert, entwickeln sich die meisten dieser Merkmale bereits in der Embryonalzeit. Ebenso die Anlagen für unsere psychischen und geistigen Qualitäten. Sie sind das Ergebnis einer immer komplexer werdenden „Verdrahtung“ von Zellelementen innerhalb des Gehirns. Das beginnt ebenfalls bereits in der Embryonalzeit, setzt sich im Laufe der Kindheit fort und reift oft erst mit dem Erwachsenwerden aus. Dabei formen sich auch die für unsere Individualität maßgeblichen Persönlichkeitsmerkmale aus. In Analogie zu den Trophäentieren der afrikanischen Großwildjäger als „Big Five“ bezeichnet, werden sie in fünf Klassen eingeteilt:
- Offenheit für Erfahrungen,
- Gewissenhaftigkeit,
- Extraversion / Introversion,
- Verträglichkeit,
- emotionale Stabilität.
Innerhalb dieser Klassen wird die Merkmalsausprägung etwa zur Hälfte von den Genen diktiert. Der andere Part ist Ergebnis von Eigenerfahrungen und den Bedingungen der Umwelt. Im Falle der Intelligenz rechnet man mit einem genetischen Anteil von etwa 80 Prozent. Stellen wir uns den jeweiligen Grad der Merkmalsausprägung tabelliert vor, zum Beispiel durch zehn verschiedene Stufen und diese in jeweils unterschiedlichen Farben, dann ergibt sich für jeden einzelnen Menschen ein ausgesprochen buntes Bild. – Jeder ist eben nicht jeder!
Viele Menschen, darunter Politiker und manche Wissenschaftler (eher solche aus dem nicht-naturwissenschaftlichen Bereich) wünschen die Gene zum Teufel. Und das aus einem humanitären Grund. Einfach, weil die schicksalhafte Verteilung ihrer Gaben grob ungerecht erscheint. Insbesondere dann, wenn die Erbanlagen zu Krankheiten oder zu einer schweren Behinderung führen. Oder zur Benachteiligung der Intelligenz oder der Emotionalität. Doch unsere Wünsche lässt die Natur kalt. Geht es um die belebte Welt, ist für sie maßgebend, was durch die Evolution festgelegt wurde.
Die Gene entscheiden, ob aus einer jeweiligen Fortpflanzungszelle ein Wasserfloh entsteht, ein Rhesusaffe oder ein Apfelbaum. Und wenn ein Apfelbaum, dann von welcher Sorte. Aus anderen Fortpflanzungszellen entstehen Menschen. Ein jeder mit dem Potenzial, neben seinen genetisch festgelegten Merkmalsanlagen durch die Umwelt und durch Eigenerfahrung zusätzliche Eigenheiten auszuformen, und das oft in einem grenzenlos erscheinenden Umfang. So manche Benachteiligung der genetischen Art lässt sich dadurch ausgleichen beziehungsweise ein über das Erbgut erlangter Vorzug weiter ausbauen. Stichwörter: Talentpflege, Begabtenförderung. Allemal gilt: Jeder ist nicht jeder!
Was aber ist mit eineiigen Zwillingen?
Zwillingsstudien gehören zum Aufschlussreichsten, was die Genetik des Menschen, die Humangenetik, zu bieten hat. Eineiige Zwillinge (Drillinge, Mehrlinge) sind genetisch so gut wie identisch. Beispiele für geradezu verblüffende Übereinstimmungen gibt es ohne Zahl. Aber auch für solche, in denen sich die Zwillingspartner mehr oder weniger auseinanderentwickeln. Eigentlich sollte alles, was sie voneinander unterscheidet, von den Genen unabhängig sein. Doch fast immer künden auch dann gewisse Nuancen vom genetischen Hintergrund.
Wie überhaupt ist die genetische Identität bei den eineiigen Zwillingen zu erklären? Nach der Befruchtung einer Eizelle durch ein Spermium kommt es zunächst zu einer Reihe von Zellteilungen. Eineiige Zwillinge entstehen dann, wenn sich – aus bis heute ungeklärten Gründen – die aus den ersten Zellteilungen resultierende Zellmasse in zwei (eventuell mehr) Gruppen aufteilt, die hernach als eigenständige Individuen heranreifen. Im Regelfall als Zwillinge. Eineiig genannt, weil sie einer einzigen (befruchteten) Eizelle entstammen. Da sich bei den üblichen Zellteilungen am Chromosomenbestand nichts ändert, sind sämtliche Zellen der neuen – eineiigen – Erdenbürger genetisch so gut wie identisch. Und nicht nur das. „Zum Verwechseln ähnlich“ seien die Zwillingspartner, befindet ihre Umwelt.
Die geistigen Fähigkeiten und die psychischen Eigenschaften eineiiger Zwillinge verdienen ein besonderes Interesse. In entsprechenden Studien vergleicht man gemeinsam mit getrennt aufgewachsenen Zwillingen und diese mit zweieiigen. Zudem mit sonstigen Geschwistern wie auch mit Adoptivkindern, die in derselben Familie aufgewachsen sind. Was immer man untersucht, stets imponiert der hohe Grad der Übereinstimmung der eineiigen Zwillinge, gemessen an der von anderen Gruppen. Wenn es um Intelligenzquotienten oder sonstige Begabungen geht, sorgt das im Lager von Umwelttheoretikern regelmäßig für helle Aufregung. Oder die Ergebnisse werden einfach unter den Teppich gekehrt.
Eines ist bei den eineiigen Zwillingspartnern grundverschieden: das Ich-Bewusstsein. Jeder der Partner verfügt über ein völlig eigenständiges Ich, keinerlei Vermischung gibt es da. Warum eigentlich? Wenn Menschen genetisch identisch sind, sollte das zu praktisch identischen Gehirnen führen, mithin zu gleichartigen Hirnleistungen und daher auch zu gleichen Bewusstseinszuständen. Doch was überhaupt ist Bewusstsein, und wie funktioniert das mit dem Ich-Empfinden? Trotz intensiven Bemühens gibt es dafür bis heute keine befriedigende Erklärung, weder von Psychologen noch von Philosophen noch von Hirnforschern. Gerade mal darüber besteht Einigkeit, dass das Bewusstsein eine Hirnleistung ist. Nämlich das Ergebnis eines „irgendwie“ gearteten Zusammenwirkens von etwa hundert Milliarden Nervenzellen und ebenso vielen Gliazellen mit jeweils hunderten und tausenden synaptischen Kontaktstellen. Doch wie den Modus operandi eines solchen Verbundes verstehen? Astronomisch viele informationelle Wechselwirkungen gilt es dabei einzurechnen, ja „über“astronomisch viele („Können wir unser Gehirn verstehen?“). Und dazu ist unser Gehirn nicht in der Lage. Auch nicht ein kollektiver Verbund aus den Gehirnen sämtlicher Hirnforscher dieser Welt. So paradox es klingen mag: Unser Gehirn ist viel zu klein für seine Größe.
Es bleibt dabei, auch wenn es den Politikern missfällt: Jeder ist nicht jeder!
Gerald Wolf ist emeritierter Magdeburger Universitätsprofessor, Hirnforscher und Institutsdirektor.