Von Christoph Rothenberg.
Totgesagte leben bekanntlich länger, und so ist er wieder da: der Sozialismus; heute zunehmend im grünen Tuch statt in roter Fahne.
Gerade unter jungen Menschen und vor dem Hintergrund der Klimakrise scheint der Sozialismus sich einer wachsenden Beliebtheit zu erfreuen: Auf den „Fridays for Future“-Demonstrationen tragen Schüler Plakate mit Slogans wie „Capitalism kills“ und dem Wunsch nach „System Change statt Climate Change“. Die Sprecherin der Grünen Jugend, Anna Peters, hat in ihrer Bewerbungsrede unter lebhaftem Applaus der Delegierten „keinen Bock mehr auf die hohlen Phrasen der letzten 30 Jahre“ und will nicht eher ruhen, bis der „Kapitalismus zerstört“ ist. Bei der Entscheidung zwischen „Kapitalismus, Sozialismus, Marxismus“ ist das „Problem“, laut Frau Peters, „dass wir zu oft in die Vergangenheit schauen“. Was verwundert, hätte man doch annehmen können, dass Millionen Tote und Jahrzehnte der sozialistischen Diktatur und Unterdrückung das wahre Problem waren. Aber weit gefehlt. Statt also in die Vergangenheit auf die „Probleme“ zu schauen, soll nun mit neuem Elan und vorwärtsgewandt ein ökologisches und gerechtes „sozialistisches System gebaut“ werden.
Eine Einstellung, die von Frau Esken als SPD-Vorsitzender geteilt wird. Auch sie findet: „'Echten' Sozialismus gab’s bisher noch nicht.“ und „wer Sozialismus negativ verwendet, hat halt einfach keine Ahnung. So.“
„Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden“
Nun ist der Blick auf Fakten, gerade solche der jüngeren Vergangenheit, dem ideologisch Reinen verständlicherweise ebenso ein Graus wie der Blick über den Tellerrand der eigenen Überzeugung. Aber auch wenn es den wahren, den echten Sozialismus bisher nicht gab, gab es immerhin vor nicht allzu langer Zeit einen „real-existierenden Sozialismus“. Der eine oder die andere, der/die Lehren aus Vergangenheit und Erfahrung nicht für lästigen Ballast hält, mag sich noch erinnern.
Darum trotzdem mal der Blick zurück: Man schrieb das Jahr 1988. Der real-existierende Sozialismus in der Deutschen Demokratischen Republik wähnte sich in voller Blüte. Demonstranten, die meinten unter der Losung „Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden“ eine andere Meinung äußern zu dürfen, sahen sich erst verhaftet und dann zur Ausreise gedrängt. „Alter weißer Mann“ war noch kein Schimpfwort und ich war jünger als Frau Peters heute und durfte die DDR auf einer Projektreise kennenlernen.
Natürlich ging das nicht ohne intensive Begleitung durch die drei Buchstaben: SED, FDJ und Uwe. Unser Begleiter Uwe war Ende 20, dialektisch und rhetorisch hervorragend geschult und bis auf seinen DDR-Schnauzer ein wirklich knorker Typ. Uwe hatte auf alles eine Antwort, die gut klang, ideologisch einwandfrei war und in wohlgesetzten Worten die Überlegenheit des Sozialismus belegte.
Fakten galten nichts, Haltung war, was zählte
Die Mauer?
Dank des Antifaschistischen Schutzwalls herrscht Frieden in Europa.
Freie Wahlen?
Gibt es; alle antifaschistischen Kräfte unter der Führung der Arbeiterklasse demokratisch vereint.
Umweltverschmutzung?
Gibt es in der DDR nicht; auch hier zeigt der Sozialismus seine Überlegenheit.
Was wollte man da weiter sagen?
Fakten galten nichts, Haltung war, was zählte. Und die gab es überreichlich. Da vermochte selbst die Frage, woher der Dreck in der Elbe direkt hinter der Grenze auf einmal kam, Uwe nicht zu rühren. Der Sozialismus war gut, der Sozialismus war rein, die Partei hatte recht und wer das leugnete, war verblendet, Faschist oder beides. Auch wenn es draußen noch so sehr zum Himmel stank, der demokratische Sozialismus war die Lösung; die offizielle Wahrheit war sakrosankt. Wer das nicht einsah, der hatte halt einfach keine Ahnung. So. Und schließlich war der Umweltschutz bereits seit 1968 offizielles Staatsziel der Verfassung der DDR.
Dem real existierenden Sozialismus „systemfremd“
Aber wenn es draußen doch stank und rußte? Weil die Fakten keinesfalls den offiziellen Wahrheiten widersprechen durften, war die Lösung zur Erreichung dieses Ziels schnell gefunden: Der Ministerrat erklärte im November 1982 Umweltdaten weitgehend zur Verschlusssache.
Denn merke: Was nicht sein darf, kann nicht sein. Oder zumindest wird nicht darüber gesprochen. Schließlich war Umweltverschmutzung, nach Feststellung von sozialistischen Experten der Humboldt-Universität, dem real existierenden Sozialismus „systemfremd“. Verursacher konnte daher, ganz klar, nur der Kapitalismus sein. Uwe wusste das.
Die nicht real-sozialistische Realität sah da anders aus. So schrieb der Spiegel 1985:
„In Leuna ist den Bewohnern der Arbeitersiedlung bis heute unbekannt, daß sie Obst oder Gemüse aus den eigenen Gärten nicht essen dürften: Es enthält Cadmium, Quecksilber und andere Schwermetalle – bis zu 150mal mehr, als die menschliche Gesundheit gerade noch verkraftet.“
Auch das ließ sich auf bewährte Art lösen: „Die verantwortlichen Parteigenossen halten die Untersuchungsergebnisse unter Verschluß. Sie selbst allerdings sind vorsichtig: In ihren Gärten wächst nur Rasen.“ Und den Spiegel-Journalisten verwies man flugs des Landes. Problem gebannt.
Plan schlägt Naturwissenschaft
Das mit den Grenzwerten durfte man ohnehin nicht so eng sehen. Zwar gab es maximale Emissionswerte, diese konnten aber bei Bedarf zwischen den Kombinaten und den Behörden flexibel angepasst werden. Wenn der von der Partei vorgegebene Produktionsplan anders nicht erreicht werden konnte, dann musste halt der Grenzwert heraufgesetzt werden. Denn merke: Plan schlägt Naturwissenschaft, Produktion schlägt Gesundheit und Ideologie schlägt Verstand. So nahm es nicht wunder, dass die Lebenserwartung im besonders belasteten Bitterfeld um fünf bis acht Jahre unter dem Durchschnitt im umgebenden Bezirk Halle lag. Man musste ja nicht darüber sprechen.
Uwe jedenfalls sprach nicht davon. Schon gar nicht mit ein paar aufmüpfigen Schülern aus Hamburg, wo die Elbe dreckig war. Da war ja Kapitalismus. Auch dabei blieb er auf der offiziellen Linie. Seit 1985 waren per Direktive der Partei Umweltdiskussionen an den Schulen untersagt. Die Experten und Uwe folgten bereitwillig dieser offiziellen Wahrheit. So gab die „Pädagogik – Zeitschrift für Theorie und Praxis der sozialistischen Erziehung“ bekannt, es bestehe „keinerlei Anlass für unsere Schule, Nachhol- oder Defizitdiskussionen zu entfachen“. Man durfte halt nicht so genau hinschauen.
Und wenn geschaut wurde, wie vom Umweltministerium, dann galt es, die Ergebnisse zur Verschlusssache zu machen. Was hätte Uwe gesagt, hätte er die geheime Studie des Umweltmisteriums zum Zustand der Elbe lesen dürfen? Wahrscheinlich nichts, schließlich waren die Fakten dem Sozialismus wesensfremd.
„Die Elbe wird zum breiten Giftstrom“
Der Spiegel jedenfalls berichtete nach der Wende ausführlich über die ministeriellen Feststellungen zur „Giftsuppe aus dem Osten“ – ein paar Beispiele:
- Allein aus dem Chemiekombinat Bitterfeld flossen 3,5 Millionen Tonnen hochgiftigen Quecksilbers pro Jahr in die Elbe. Das entspricht der 30-fachen Menge der gesamten Quecksilbereinleitungen in die Elbe in der Bundesrepublik.
- 120 m3 giftigen Chemiemülls floss weitgehend ungeklärt über die Mulde in die Elbe; jeden Tag.
- Aus den Leuna Werken kamen 480 kg einer giftigen Brühe, die Nieren- und Leberschäden hervorrufen konnte, hinzu; auch dies pro Tag.
- Die Elbe in der DDR war mit dem 90-fachen des nach EU-Trikwasserverordnung zulässigen Cadmiumgehalts und dem 250-fachen Quecksilbergehalt belastet.
- Klärwerke waren kaum vorhanden, so dass auch die kommunalen, mit Keimen, Bakterien und Viren belasteten Abwässer ungeklärt zur Chemiebrühe hinzukamen.
Das Fazit zur Zustandsbeschreibung der Elbe in der DDR aus Bericht des Spiegel lautete 1989:
„Die Elbe wird in der DDR zu einem breiten Giftstrom, der am Ende zu nichts mehr taugt. Wenn er die Ost-Republik bei Schnackenburg verlässt, so der Bericht aus dem Ost-Berliner Umweltministerium, dann hat das Wasser „eine unbrauchbare Beschaffenheit für die Trinkwasser-, Badewasser- und Fischereinutzungen“. Selbst als Kühlwasser sei es bloß noch „bedingt“ verwendbar.“
Grüne Enkel sehnen Sozialismus herbei
1989 hat die sozialistische DDR 2,2 Millionen Tonnen Staub und 5,2 Millionen Tonnen Schwefeldioxid ausgestoßen. Die mehrfach größere kapitalistische Bundesrepublik hingegen nur noch 878.000 Tonnen Schwefeldioxid. Fast jedes zweite Kind in den Industrieregionen der DDR litt an Atemwegserkrankungen, jedes dritte hatte Ekzeme. Eine Liste, die sich noch lang fortsetzen ließe, wenn man aus der Vergangenheit und den Realitäten lernen wollte.
In den 1980er Jahren hatten die Bewohner der realsozialistischen Republik aufgrund der Umweltverschmutzung „Angst um ihre Kinder“. 35 Jahre später sehnen ihre grünen Enkel den Sozialismus herbei. Ihre Sprecherin Frau Peters hat natürlich recht: da ist es ein Problem, zu genau in die Vergangenheit zu schauen.
Einstein wird der Satz zugeschrieben: Die Definition von Wahnsinn ist, immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten.
Frau Peters von der Grünen Jugend und Frau Esken wollen es 30 Jahre nach dem sozialistischen Experiment DDR mit einem ökologisch und sozial gerechten Sozialismus versuchen. Und wer zurück blickt oder wer was dagegen hat, hat halt keine Ahnung.
Bleibt die Frage, was wohl Uwe heute macht?
Und natürlich, wem Sie folgen wollen? Saskia Esken oder Albert Einstein.